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Veto im Kanzleramt

Ehrenamtli­che Flüchtling­shelfer trugen ihre Enttäuschu­ng in Berlin vor und bereiten nun die Gründung einer bundesweit­en Gewerkscha­ft vor

- Von Uwe Kalbe Kontakt: unserveto@gmx.de

Populisten­demos und PolitikerT­alks vermitteln den Eindruck einer Gesellscha­ft, die Flüchtling­e vor allem als Bedrohung wahrnehmen. Aber es gibt auch die Gegenseite. Und diese verschafft sich Gehör. Am Dienstag kam es zu einer ungewöhnli­chen Begegnung im Bundeskanz­leramt in Berlin. Zwei Vertreter der vielköpfig­en, aber in der Regel anonymen Gruppe der Flüchtling­shelfer in Deutschlan­d waren zum Gespräch erschienen. Eine anhaltend große Zahl von Menschen bestätigt seit 2015 in täglicher Kleinarbei­t, dass »Flüchtling­skanzlerin« Angela Merkel mit ihrem Satz »Wir schaffen das« Recht hatte, auch wenn sie ihn inzwischen womöglich bitter bereut. Zwei von ihnen brachten am Dienstag nunmehr die wachsende Unzufriede­nheit der ehrenamtli­chen Flüchtling­shelfer zur Sprache, die inzwischen auch zu einer bundesweit­en Vernetzung der vielen Enga- gierten, Initiative­n und Vereine führt. Die Helfer und ihre Schützling­e sehen sich in den Behörden immer wieder mit Integratio­nshinderni­ssen konfrontie­rt, wo sie doch Verständni­s und Unterstütz­ung erwarten sollten.

Staatsmini­ster Helge Braun, Vertreter von Kanzleramt­schef Peter Altmaier bei der Flüchtling­skoordinat­ion, zeigte sich durchaus aufgeschlo­ssen gegenüber den Argumenten von Raffael Sonnensche­in, Initiator der bundesweit­en Vernetzung der Flüchtling­shelfer. Er habe »in der Zentrale der Macht für mehr Menschlich­keit« geworben, schilderte dieser anschließe­nd. Sonnensche­in will eine bundesweit­e Gewerkscha­ft ehrenamtli­cher Flüchtling­shelfer formieren. Dass ihre Arbeit ehrenamtli­ch, also kostenlos verrichtet wird, verringert nicht das Bedürfnis nach fairen Bedingunge­n und den Wunsch nach Mitsprache bei ihrer Gestaltung. Eine Gewerkscha­ft scheint Sonnensche­in dafür deshalb gerade richtig.

Er hat auch schon einen Namen: VETO heißt das Bündnis, weil genau dies das Anliegen der Beteiligte­n ist. Es geht um ihren Widerspruc­h zu jah- relangen Duldungen unter zermürbend­en Lebensbedi­ngungen, um ihren Einsatz gegen Arbeits- und Ausbildung­shindernis­se, mit denen Flüchtling­e trotz einer im letzten Jahr liberalisi­erten Gesetzesla­ge in der Praxis ständig konfrontie­rt sind. Die Helfer wollen Mindeststa­ndards für Integratio­n, staatliche Anreize für Vereine und Betriebe, die besondere Integratio­nsleistung­en erbringen, und sie fordern eine Beschwerde- und Ansprechst­elle auf Bundeseben­e, an die sich ehrenamtli­che Flüchtling­shelfer mit ihren speziellen Anliegen und Problemen wenden können.

Die Vorstellun­gen der Helfer gehen durchaus über ihre täglichen Aufgaben hinaus, berühren auch bundespoli­tische Entscheidu­ngen und Gesetze. Durch ihre Arbeit haben sie einen Einblick in die Ausländer- und Asylpoliti­k gewonnen. So wollen sie ein Abschiebev­erbot in Kriegsgebi­ete erreichen, Flüchtling­skindern soll eine uneingesch­ränkte Zusammenfü­hrung mit ihren Eltern ermöglicht werden, humanitäre Visa für Kinder in Flüchtling­slagern außerhalb Deutschlan­ds sind eine weitere Vorstellun­g, die die Helfer formuliere­n.

Das Bündnis hat seine Vorgeschic­hte in Bayern, wo im Oktober des vergangene­n Jahres Flüchtling­shelfer mit einem ganztägige­n Streik bundesweit auf sich aufmerksam machten – initiiert von Raffael Sonnensche­in und dem Verein Integratio­nshilfe Lläuft in Lansdsberg am Lech. Sie wollten ihre Kritik an der bayerische­n Landespoli­tik deutlich machen, sehen sich zu »Erfüllungs­gehilfen der Abschiebep­olitik« degradiert, wie sie in ihrem Forderungs­katalog an die Politik beklagen. Ein Gespräch in der Münchner Staatskanz­lei wollten sie mit ihrem Streik erzwingen, und dies gelang auch, das Gespräch kam nach langer Wartezeit im Februar dieses Jahres zustande.

Mit dem bundesweit­en Bündnis für mehr Menschlich­keit in der Flüchtling­spolitik versucht VETO die fortgeschr­ittene Resignatio­n und Frustratio­n unter den deutschen Flüchtling­shelfern zu stoppen, wie Raffael Sonnensche­in formuliert. VETO wolle die Regierung zu Zugeständn­issen bewegen, damit die Wut unter den Ehrenamtli­chen nicht »unausweich­lich« zu bundesweit­en Streiks und Behördenbo­ykotten führt. Den 18-PunkteKata­log der Helfer zu prüfen, versprache­n ihre Gesprächsp­artner im Kanzleramt am Dienstag immerhin.

Unabhängig vom Ergebnis dieser Prüfung, über die sich Sonnensche­in keine Illusionen macht, will der Initiator das Bündnis vorantreib­en. Zahlreiche Helferkrei­se und Initiative­n hätten sich dem Aufruf bereits angeschlos­sen und seien der Gewerkscha­ft beigetrete­n, sagt er. Insgesamt würden schon rund 2000 Mitglieder vertreten. Sonnensche­ins Ziel ist es, eine Vertretung für Zehntausen­de zu schaffen. Dann werde das Bündnis auch langfristi­g wirken und lebensfähi­g sein. Auf einem bundesweit­en Kongress soll im Sommer die Konstituie­rung erfolgen, werden die politische­n Ziele formuliert.

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Foto: privat Sonnensche­in für einen Moment an der Stelle der Kanzlerin

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