Nullnummern und offene Türen
Nach 100 Tagen Rot-Rot-Grün sehen Initiativen »hoffnungsvolle Ansätze« und viel Chaos
Stadtpolitische Initiativen erkennen an, dass die neue Landesregierung von SPD, Linkspartei und Grünen einen Politikwechsel anstrebt. Viel umgesetzt worden sei bisher allerdings nicht. Der rot-rot-grüne Senat veröffentlichte Anfang Januar ein 100-TageProgramm, das er bis Mitte April umsetzen will. Ernannt wurde der Senat aber bereits am 8. Dezember. Damit sind SPD, Linkspartei und Grüne bereits am Freitag 100 Tage im Amt. Stadtpolitische Initiativen und Verbände kritisieren die bisherige Arbeit wohlwollend bis zum Teil scharf.
»Es gibt hoffnungsvolle Ansätze«, sagt Rouzbeh Taheri vom Mietenvolksentscheid über die Wohnungspolitik. Umgesetzt worden sei bisher aber wenig. Das liegt Taheri zufolge auch an den Streitigkeiten um den zunächst berufenen Wohnstaatssekretär: »Wir wissen, dass durch den Rücktritt von Andrej Holm einiges verzögert wurde.« Zu den positiven Entwicklungen zählt Taheri, dass der Mietenstopp im sozialen Wohnungsbau durchgesetzt worden sei und dass es zumindest die Zusage gebe, dass die Mieterhöhungen der Städtischen Wohnbaugesellschaften zurückgenommen werden. Jetzt müsse der Senat aber mehr liefern: »Wir erwarten, dass in den nächsten Wochen größere Maßnahmen umgesetzt werden.«
Grundsätzlich zufrieden mit RotRot-Grün ist Heinrich Strößenreuther vom Volksentscheid Fahrrad. »Wir haben jetzt eine Verwaltung, die von der Spitze her etwas verändern möchte«, sagte er dem »nd«. »Wir rennen offene Scheunentore ein.« Positiv sieht er, dass der Senat 20 Millionen Euro für den Radverkehr ausgeben möchte. Den konkreten Einsatz der Mittel sieht er allerdings kritisch: »Womit wir nicht glücklich sind: Dass ein Großteil der Gelder in Radstreifen investiert werden soll.« Das sei keine moderne Lösung, um den Radverkehr sicherer zu machen. Zum einen würden die Autos auf den übrigen Fahrbahnen weiter rasen. Zudem: »Aufgepinselte Radstreifen werden von Autofahrern als langgezogenes Parkhaus angesehen.« Derzeit verhandelt Strößenreuther mit Vertretern der Politik über ein neues Radgesetz, für das die Initiative Volksentscheid Fahrrad im vergangenen Jahr einen Aufschlag gemacht hatte.
Schnell vorangetrieben hat der Senat den Umbau des Stadtwerks zu einem kommunalen Unternehmen mit mehr Eigenverantwortlichkeit. Das ist nicht zuletzt den Vorarbeiten des Energietisches zu verdanken, der seit der Wahl im vergangenen Herbst auch zwei Vertreter im Abgeordnetenhaus sitzen hat. Eric Häublein, Sprecher des Energietisches, fehlen allerdings noch konkrete Aussagen zur inhaltlichen Ausgestaltung. »Die soziale Flanke ist noch nicht bedient«, sagte er dem »nd«. Es gebe beispielsweise keine Aussagen dazu, wie Armen geholfen werden solle, damit ihnen nicht der Strom abgedreht werde. Dazu müsse es zumin- dest wieder eine Beratungsstelle geben, wie sie Vattenfall bis 2013 angeboten hatte. Auch beim Thema Mitbestimmung gebe es »noch sehr viel Spielraum«.
Für Georg Classen vom Flüchtlingsrat Berlin ist das 100-Tage-Programm von Rot-Rot-Grün »flüchtlingspolitisch eine Nullnummer«. Dass mittlerweile kaum mehr Flüchtlinge in Turnhallen wohnen, freut ihn zwar. Der Umzug verlaufe aber »in gewohntem LAF-Chaos«, sagte Classen dem »nd«. Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) war im Sommer 2016 gegründet worden, nachdem das damals noch für Flüchtlinge zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales 2015 wiederholt negative Schlagzeilen erhalten hatte. »Wir fordern, dass weitere menschenunwürdige Unterkünfte, wie die Notunterkunft im ehemaligen C&A in Neukölln und der Ankunftshangar Tempelhof, geschlossen werden.« Auch in anderen Be- reichen sieht er keinen Unterschied zum vorhergehenden schwarz-roten Senat. »Die Ausländerbehörde wehrt Flüchtlinge ab, statt sie zu integrieren.« Beispielsweise erhielten anerkannte Flüchtlinge über viele Monate hinweg nicht die ihnen zustehende Aufenthaltserlaubnis. Ihnen würden nur DIN-A4-Zettel ausgehändigt, die sie faktisch in einem »rechtlosen Status« festhielten. Grund hierfür sei eine erneute Identitätsprüfung durch die Ausländerbehörde nach Abschluss des Asylverfahrens. Diese Praxis sei rechtswidrig und bundesweit auch einzigartig. »Geisel greift nicht ein«, kritisierte Classen. Innensenator Andreas Geisel (SPD) ist für die Ausländerbehörde zuständig. Über die neue Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linkspartei) sagte Classen: »Auf Probleme angesprochen, verweist Breitenbach immer nur auf ihren Vorgänger. Eine neue Ausrichtung der Flüchtlingspolitik in Berlin ist bislang nicht erkennbar.«