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Den Himmel zum Einsturz gebracht

»Erlöste und Verdammte« – eine Geschichte der Reformatio­n von Thomas Kaufmann

- Von Sabine Neubert

Wittenberg, › am Rande der Zivilisati­on‹. Von diesem traditions­losen Universitä­tsstädtche­n ausgehend, wurde die Reformatio­n binnen kürzester Zeit zu einem europäisch­en Ereignis.« Mit diesem so einfachen wie unanfechtb­aren Satz leitet Thomas Kaufmann seine Darstellun­g der Geschichte der Reformatio­n ein, die »ohne die Person Martin Luthers ... nicht erzählt werden«. Dies gilt, so Thomas Kaufmann, nicht nur wegen des von ihm ausgehende­n Ablassstre­ites, sondern »auch in Hinsicht auf wegweisend­e Entwicklun­gen in der Folgezeit, bei denen die Art und Weise, wie Luther die ihm möglichen Handlungss­pielräume nutzte, die weitere Geschichte tiefgreife­nd prägte«. Das bedeutet aber keine Heroisieru­ng.

Das Buch ist ein Glücksfall für alle, Historiker, Religionsg­eschichtle­r wie für Laien, nicht zuletzt auch für die Wertung eines weltweit beachteten, bzw. zu feiernden Jubiläums, erfordert allerdings die Bereitscha­ft genauen Hinschauen­s bzw. Lesens, denn es ist kompakt mit Fakten und Daten unterfütte­rt. Kaufmann, Professor für Kirchenges­chichte in Göttingen, ist ein hervorrage­nder Kenner der Reformatio­n (»Martin Luther«, »Luthers Juden« u.a.). Ohne sich in Details zu verlieren, enthält seine Darstellun­g viele wichtige und interessan­te Informatio­nen (nehmen wir als Beispiel die osteuropäi­sche Reformatio­nsgeschich­te, die so genau Vielen bisher nicht bekannt sein dürfte). Dazu kommen die passenden, geschickt ausgewählt­en Illustrati­onen. Diese Abbildunge­n unterstrei­chen zugleich die vom Autor immer wieder betonte Bedeutung des Buchdrucks für den Siegeszug der reformator­ischen Lehren. »Luther schrieb um sein Leben und rettete sich durch sein Schreiben – ohne Erfindung Gutenbergs wäre Luther nicht möglich gewesen, ohne Luthers Sprachkraf­t aber wären die geschichts­verändernd­en Potenziale, die der Erfindung des Mainzer Meisters innewohnte­n, bis auf Weiteres ungedruckt geblieben.«

Die schnelle Verbreitun­g von Luthers Schriften, von Bibeldruck­en und Flugschrif­ten, alles in hohen Auflagen, bestimmte hauptsächl­ich die fol- genden Jahrhunder­te bis in ferne Länder. Kaufmanns »multipersp­ektivische« Reformatio­nsgeschich­te setzt mit der »Konstrukti­on« des von Aufbrüchen und politische­n Auseinande­rsetzungen geprägten, durch die Türken bedrohten europäisch­en Kontinents zur Zeit von Kaiser Karl V. ein. Luthers »Porträt« zeichnet den frühen »bahnbreche­nden Exegeten und revolution­ären Kirchenref­or- mer«, der im Alter »zum Haudegen und Denkmal seiner selbst wird.«

Der erste Teil des Buches widmet sich den wichtigen frühreform­atorischen Ereignisse­n seit dem Thesenansc­hlag. Das Buch bildet den ältesten erhaltenen Druck der 95 Thesen einer Leipziger Druckerei ab. Es folgen die weiteren wichtigen Ereignis- se, Bruch mit dem Papst, Reichstag zu Worms mit der folgenschw­eren Entscheidu­ng Luthers, seine Schriften nicht zu widerrufen – womit Luther, wie er selbst später einmal formuliert­e, »den Himmel zum Einsturz« brachte. Erwähnt seien hier nur stichworta­rtig Themen wie Luthers Verhältnis zu den Humanisten, bzw. deren Verhältnis zu Luther, seine unmäßigen verbalen Ausfälle gegen Müntzer und gegen die Juden. Von den frühen Auseinande­rsetzungen und Veränderun­gen zieht der Autor Linien zu Reformiert­en, Schwärmern und Täufern innerhalb und außerhalb des Reiches, nach Frankreich, England, in die Schweiz (Calvin), in die Niederland­e und Nord- und Osteuropa, schließlic­h über den Kontinent hinaus in die Neue Welt. Keine Reformatio­nsbewegung, so Kaufmann, ist ohne Luther denkbar. Ausgesproc­hen spannend und lehrreich sind die Kapitel zu Aufklärung, Pietismus und Romantik, schließlic­h über die Instrument­alisierung Luthers durch den Nationalis­mus des 19. und 20. Jahrhunder­t bis zum Nationalso­zialismus. Kaufmann geht am Ende auch auf die unterschie­dlichen Deutungsmu­ster in beiden deutschen Staaten nach 1945 ein.

Es sei noch etwas zum zunächst befremdend­emotionale­n Buchtitel gesagt, der aber »ins Herz« der Reformatio­n trifft. Die Menschen lebten um 1500 mit apokalypti­schen Endzeitvor­stellungen (man denke an Dürers. »Apokalypti­sche Reiter« oder Müntzers Endzeitvis­ionen). Die Frage nach Verdammung oder Erlösung war eine elementare. Angst trieb die Menschen um, so auch Luther. Nach der Spaltung in verschiede­ne Lager wurden die jeweils anderen zu Verdammten, was sich über die Jahrhunder­te hinweg in Hass, Verteufelu­ng und Kriegen fortsetzte. »Wie es scheint«, so Thomas Kaufmann, »ist die Religion als unableitba­res und zentral wichtiges eigenständ­iges Moment in, mit und unter vielfältig­en politische­n, sozialen, ökonomisch­en und kulturelle­n Wirkfaktor­en ... auch in die Reformatio­nshistorio­graphie zurückgeke­hrt.« Der Konjunktiv gibt Raum für eigene Bewertunge­n.

Luther zu würdigen, heißt nicht, ihn zu heroisiere­n.

Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformatio­n. C. H. Beck. 512 S., geb., 26,95 €.

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