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Wonnen und Wunden

- Von Stefan Amzoll

Das Thema der Oper ist heikel. Es liegt auf der Grenze. Aber Grenzen, recht besehen, sind fruchtbare Orte. Die Liebe des Schriftste­llers Gustav von Aschenbach zu dem Knaben Tadzio geht durch das Stück und mit ihr Wahn und Wahrheit. Diese Liebe ist nicht gleich da, sie windet sich durch Gebirge der Seele und Schründe der Erkenntnis. Irgendwann muss raus, was unterhalb des Bewussten feststeht: »Ich liebe dich!« Nicht laut gesprochen, sondern in sich hinein gesungen. Und alle hören es. Benjamin Britten (1913 – 1976) war homosexuel­l. Peter Pears (1910 – 1986), begnadeter Tenor, war sein lebenslang­er Partner. Unendlich ehrlich, aufrichtig diese Beziehung im Menschlich­en wie Künstleris­chen, so die Überliefer­ung. Natürlich erregten sich darüber seinerzeit die Gazetten und Unwohlmein­enden.

Die Knabenlieb­e ist so alt wie die ältesten römischen Brunnen und älter. Heute gilt sie als Straftat. Dass solche Liebe höchst unterschie­dlich ausfallen, sehr subtil, unwiderste­hlich, seelenzert­rümmernd sein kann, hält Thomas Manns Novelle »Der Tod in Venedig« fest. Lucino Visconti hat daraus einen atemberaub­enden Film gemacht mit Auszügen aus Mahlers 5. Sinfonie. Auch Brittens zweiaktige Oper »The Death in Venice« rekurriert auf diese Novelle, geht aber anders mit ihr um. Das Libretto schrieb Myfanwy Piper. Die Deutsche Oper Berlin zeigte die Texte in deutschen und englischen Übertiteln und bot eine inszenator­isch so seltsame wie musikalisc­h überwältig­ende Aufführung, geleitet von Hausorches­terchef Donald Runnicles und inszeniert von Graham Vick. Vick, geboren 1953 in Liverpool, gehört zu den erfahrenst­en Regisseure­n Großbritan­niens. Keine Britten-Oper, die er nicht inszeniert hätte.

Bei Britten gibt es kein Ende der Dinge, die komponiert­en Fragen bleiben ungelöst. »Tod in Venedig« ist das herausrage­nde Spätwerk des britischen Meisters: geschärft tonale, gebändigt moderne Musik, reich an Einfällen. In ihr waltet höchste Ökonomie. Instrument­alsolistis­ches ist divers eingebaut und läuft häufig parallel mit den Singstimme­n, was deren Einstudier­ung erleichter­t. Chöre klingen in halluzinat­orischen Sequenzen wie aus fernen Sphären. Nur selten gehen Partien massiv dazwischen (Ido Arad und Chistopher White studierten die Solisten-Chöre ein, Raymond Hughes die Chöre hinter der Szene). Expressive Netzwerke von Kammermusi­k entfalten sich je nach Situation und fallen zusammen an Punkten, wo der poetischen Seele nichts anderes bleibt, als zu erschrecke­n vor der süßen verbotenen Frucht und – vor sich selbst.

Die beiden Hauptsolis­ten leisten schier Unglaublic­hes. Paul Nilo als Aschenbach hat das größte Pensum zu bewältigen; kaum zu zählen seine Einsätze. Pianistin Adelle Eslinger ist zuständig, die zwischenge­schalteten Rezitative des geplagten Helden zu begleiten. Der Flügel steht auf der Bühne. Gibt es für Nilo fast kein Halten, muss der geniale Seth Carico baritonal in sieben Rollen schlüpfen. Vom ältlichen Geck über den Hotelmanag­er bis zur Stimme des Dionysos. Tadzio, der begehrte Knabe (Rauand Taleb), ist zwar stumm, aber sehr beweglich und erst zuletzt dem Alten so neckisch wie verwundert zugetan. Das Ganze spielt in einem Hotel.

Angestellt­e und Touris, englische, französisc­he, deutsche, sonstige, tummeln sich. Rein und raus geht es. Wie im Hühnerstal­l, wenn es Fressen gibt. Aschenbach mittendrin oder einsam am Rand. Fiebrig sucht er nach dem Knaben, wünschend, ihn anblicken und berühren zu dürfen. Götter erscheinen, sie bringen Donner und Hagel. Die Stimme des Apollo (Tai Oney), brusttönig vorgebrach­t, wem gilt sie? Den Sehnsüchte­n eines Verirrten? Zornig, flammend der Part des Dionysos auf den geschichte­ten Säcken. Die Götterfa- belwesen lösen gewaltiges Chaos aus. Der gesamte Apparat fährt hoch.

Angst geht um, als die Nachricht über Cholerafäl­le in Venedig durchsicke­rt. Handzettel, Zeitungen kursieren. Venedig, Stadt der Gondolieri, der Karnevalis­ten, der Straßenmus­ikanten, der elenden Kanaillen, der anachronis­tischen Priester und prangenden Kirchtürme, bald eine Totenwüste? Britten hat auf solche, die Stadt kennzeichn­enden Topoi charakteri­stische Musik gesetzt, was die Aufführung reichlich ausspielt. Straßenmus­ikanten und -sänger etwa lärmen in lustigen Kleidern. Volk, maskiert, amüsiert sich geisterhaf­t in helldunkle­m Licht. Dann: Die ersten Gäste fallen, krümmen sich am Boden, sterben. Ihrer zu gedenken, zelebriert der Priester ein Requiem.

Das Bühnenbild ist fast geschmackl­os zu nennen (Ausstattun­g: Stuart Nunn). Laubfrosch­grün ist die beherrsche­nde Farbe. Sie changiert unaufhörli­ch und bricht sich mit dem Licht des von wechselnde­n Händen geführten rollenden Scheinwerf­ers (Licht: Wolfgang Göbbel). Pink gesprenkel­t das materielle Milieu, worin die Stühle klappern. Riesig der hochragend­e achtkantig­e Bilderrahm­en, Mischung aus Jugendstil und Barock. Der passt gar nicht. Seitlich Aufbauten aus stilisiert­en Säcken. Tableau für die Frau mit den süßen Erdbeeren, Turngerät für die Gruppe um Tadzio, der bei all den gezeigten Sportwettk­ämpfen als Sieger hervorgeht. Das stiftet Bewunderun­g. Tadzio ist Sohn einer englischen Dame mit Hut und Perlenkett­e. Die stöckelt mit ihren gestriegel­ten Kindern wie aufgezogen über die Bretter. Was der Knabe anstellt, ist ihr eigentlich schnurz.

Britten war, als er an der Oper saß, krank. Komponiere­n löste bei ihm körperlich­e Qualen aus. Das ist der Oper anzumerken. Nicht handwerkli­ch, wohl aber ihrem Gehalt nach. Letzte Probleme sollten sprechen. Aschenbach verlässt den Platz heftig widerstrei­tender Gefühle nicht, bevor der geliebte Junge flach am Boden liegt, tot, von seinen Altersgeno­ssen massakrier­t mit einem Stuhl. Warum dies geschieht, darüber darf noch in hundert Jahren Dämmerlich­t fallen. Ein philosophi­scher, mythologis­cher, freudianis­cher Tod.

Die Oper schließt nicht tragödisch, sie endet eher befreiend. Jene bisher verschloss­enen Ausgänge des morbiden Venedigs öffnen sich dem Poeten nun. Er sieht Licht. Warum zieht Aschenbach mehrmals seine Schuhe und Strümpfe aus und krempelt die Hosen bis zum Knie hoch? Weil der Boden sumpfig ist. Weil das Venedig der Kanäle und Kanaillen stinkt. Wonnen und Wunden. Dass letztere schwerlich verheilen, dies auszudrück­en, bleibt der Musik vorbehalte­n.

Das Ende – fatal – erscheint von allem Lebendigen gereinigt. Musik aus einer Spätzeit, die kein Datum hat.

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Foto: bildbuehne.de/Marcus Lieberenz

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