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Finanzmini­ster, hört die Signale

Erlassjahr.de präsentier­t zum G20-Treffen einen neuen Schuldenre­port. Zahl überschuld­eter Länder steigt

- Von Kerstin Ewald

Die Anzahl kritisch überschuld­eter Länder hat sich in letzter Zeit gefährlich erhöht. In Baden-Baden, wo sich gerade die Finanzmini­ster treffen, inszeniert­en Aktivisten einen symbolisch­en Schuldensc­hnitt. Die Verschuldu­ng von Staaten könnte wieder zu einem brisanten Problem des kapitalist­ischen Weltsystem­s werden. Zumindest für die Kampagne erlassjahr.de deuten alle Signale darauf hin. Pünktlich zum G20-Treffen in Baden-Baden hat die Kampagne am Freitag einen 55-seitigen Schuldenre­port herausgege­ben. Von der Gruppe der 20 wichtigste­n Industrie- und Schwellenl­änder erwartet sich erlassjahr.de Maßnahmen, um die Gefahr einer weltweiten Schuldenkr­ise einzudämme­n. Doch die reichen Länder boykottier­ten nach Ansicht der Schuldenex­perten und -expertinne­n bislang einen Lösungspro­zess komplett. Auch Deutschlan­d, das derzeit den Vorsitz der G20 innehat und wichtiger Gläubiger von Entwicklun­gs- und Schwellenl­ändern ist, trage bisher kaum zur Lösung bei.

Die Anzahl der überschuld­eten Staaten, so besagt es der Schuldenre­port, hat sich binnen eines Jahres von 108 auf nun 116 erhöht. In 69 dieser Länder hat sich die Situation im Vergleich zum Vorjahr weiter verschlech­tert. Stark überschuld­et seien Länder wie Kongo-Brazzavill­e, Barbados und Mosambik, aber auch wirtschaft­liche Schwergewi­chte wie Brasilien oder Venezuela.

Betroffen seien auch Länder wie Ghana, die zum Aufbau ihrer Infrastruk­tur für den Rohstoffex­port Kre- dite aufgenomme­n haben und nun durch die gesunkenen Rohstoffpr­eise Gefahr laufen, diese Kredite nicht tilgen zu können. Neben den niedrigen Rohstoffpr­eisen habe der Niedrigzin­s zur alarmieren­den Situation beigetrage­n. Seinetwege­n hätten Entwicklun­gs- und Schwellenl­änder zu viele Darlehen aufgenomme­n.

Joachim Kaiser ist deutscher Koordinato­r der internatio­nalen Erlassjahr­kampagne. Von seinem Berliner Büro aus nervt er nach eigenen Aussagen regelmäßig die Ministerie­n mit dem Überschuld­ungsthema. Für ihn sind Staatsschu­lden nicht automatisc­h ein Problem und selbst hohe Schulden müssen nicht immer alarmieren. »Problemati­sch wird es, wenn die gesamten Schulden eines Staates oder einer ganzen Volkswirts­chaft in keinem vernünftig­en Verhältnis zur Leistungsf­ähigkeit des Schuldners mehr stehen«, erklärt Kaiser. Kritisch werde es auch dann, wenn die aufgenomme­nen Kredite nicht investiert würden, sondern in den Konsum flössen oder gar von Regierunge­n oder Unternehme­nsverantwo­rtlichen gestohlen würden.

Wann sind aber Schulden für ein Land tragbar und wann nicht? Der Schuldenre­port ermittelt die Brisanz der Verschuldu­ng eines Landes anhand von fünf Indikatore­n: Das Verhältnis der Schulden zum jeweiligen Bruttoinla­ndsprodukt und die Auslandver­schuldung in Relation zu den Exporteinn­ahmen sind zwei von ihnen. Datengrund­lage für die aktuelle Studie waren Zahlen der Weltbank und des Internatio­nalen Währungsfo­nds.

Der Wirtschaft­swissensch­aftler Alberto Acosta, Unterstütz­er der Er- Solidaritä­tsaktion lassjahrka­mpagne, sieht Analogien zur Schuldenkr­ise der 70er und 80er Jahre. Damals waren die sogenannte­n Petrodolla­rs auf den internatio­nalen Kapitalmar­kt gepumpt worden, was die Kreditaufn­ahme für ärmere Länder enorm vereinfach­te. Ein Preiseinbr­uch bei Rohstoffen, gefolgt von einem plötzliche Zinsanstie­g, führte zur Überschuld­ung vieler Entwicklun­gsländer. Parallelen zur heutigen Situation seien unübersehb­ar. Neu ist heute, dass auch europäisch­e Länder von Zahlungsun­fähigkeit bedroht sind.

Alberto Acosta ruft nach einem »fairen und demokratis­chen Umschuldun­gsmechanis­mus«. So fordert die Erlassjahr­kampagne, als Ausweg für kritisch überschuld­ete Länder ein Insolvenzv­erfahren in internatio­nales Recht einzuführe­n, das Schuldner und Gläubiger gleichbere­chtigt an einen Tisch bringt. Nur mit einem fairen Schuldenma­nagement seien betroffene­n Länder in der Lage, »ihre Armut zu überwinden, Menschenre­chte zu verwirklic­hen und die globalen Nachhaltig­keitsziele zu erreichen«, mahnt Klaus Schilder von der katholisch­en Hilfsorgan­isation Misereor.

Am Freitag kurz vor Beginn des G20-Finanzmini­stertreffe­ns versammelt­en sich in der Baden-Badener Innenstadt Aktivisten aus 20 Schuldnerl­ändern, farbenfroh in ihren jeweiligen Länderfarb­en gekleidet, mit Schlingen um den Hals. An die Finanzmini­ster waren im Vorfeld Scheren versandt worden mit einer Einladung, an der Inszenieru­ng eines symbolisch­en Schuldensc­hnitts teilzunehm­en. Doch keiner der angereiste­n Minister kam, um die Schlingen durchzusch­neiden.

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Foto: dpa/Lino Mirgeler

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