»Zieht doch nach Zehlendorf!«
22. Kongress Armut und Gesundheit beriet über solidarische Politik
Den Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Gesundheit thematisierte der wichtigste deutsche Public-Health-Kongress am Donnerstag und Freitag in Berlin. Wichtigstes Thema: Gerechtigkeit. Können die Kinder schwimmen? Welchen Bildungsabschluss haben Eltern, deren Kinder nicht schwimmen können? Was heißt das für die künftige Gesundheit der Junioren? Die Antworten auf diese Fragen scheinen absehbar, Forderungen nach regulärem Schwimmunterricht, nach Schwimmbadsanierungen und -neubau sowie niedrigen Eintrittspreisen naheliegend. Doch ganz so einfach ist es nicht, jedenfalls wenn es nach den Debatten auf dem Kongress für Armut und Gesundheit geht.
Nicht nur bei der Gesundheit von Benachteiligten – alleinerziehenden Müttern, Migranten oder Obdachlosen – schaut man dort genauer hin, sondern auch bei den Begründungen für künftige und existierende Projekte oder Politik zu deren Nutzen. Statistiker, Soziologen und andere Experten erklären auf dem Kongress ihre Datenerhebungen. Schnell zeigt sich, dass vieles nicht so sicher ist, wie oft vermutet oder behauptet wird. Beispiel USA: Dort rauchen wie erwartet die Menschen in oberen Einkommensgruppen mittlerweile weniger, die in den unteren immer noch mehr. Aber Fettleibigkeit nimmt nicht nur bei den Ärmeren weiter zu, sondern plötzlich schließen auch die Reicheren hier auf – sie essen offenbar mehr und ungesünder.
Dieser überraschende Trend kam in einer Veranstaltung zu sozialen Determinanten von Gesundheit zur Sprache, die zu großen Teilen von Mitarbeitern des Robert-Koch-Institutes (RKI) bestritten wurde. Ein bekannter Aspekt der Armutsentwicklung in Deutschland sind die regionalen Unterschiede, sehr deutlich zwischen Ost und West, aber auch zwischen einzelnen Bundesländern – und sogar innerhalb derer. Demnach haben Menschen in BadenWürttemberg ein niedrigeres Armutsrisiko als die in MecklenburgVorpommern, Bremen, Sachsen-Anhalt oder Berlin. Aber hineinzoomen kann man mit den vorliegenden Daten bestenfalls bis auf Gemeindeebene, aber nicht wie bei der virtuellen Landkarte Google Earth bis hinein in einzelne Kieze oder Straßen. Genutzt werden könnten hierfür jedoch Erhebungen privater Anbieter, die eigentlich Marketingzwecken dienen sollen, so die Idee.
Jan Goebel vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung verwies darauf, dass das Armutsrisiko zwar auch im Osten der Republik in den Großstädten am höchsten ist, dass aber der Anstieg in den kleinsten Gemeinden am deutlichsten sei. Auch sind die Jüngsten, von Kindern bis hin zu jungen Erwachsenen, stärker von Armut betroffen als die älteren Generationen. Auf Ebene der Bundespolitik wird dagegen gern auf die steigende Lebenserwartung der Deutschen verwiesen.
Wesentlich interessanter ist aber die Differenzierung in dieser Frage. Das machte Lars Eric Kroll vom RKI an einem Berliner Beispiel deutlich: Entlang der S-Bahn-Linie 1 gibt es demnach einen Unterschied in der Lebenserwartung von drei Jahren. Die Menschen, die um die Haltestelle Nordbahnhof herum wohnen, werden 78,6 Jahre
»Wo es gut ist, gehen Leute hin, denen es gut geht. Wo es schlecht ist, ziehen Leute weg, denen es gut geht.« Lars Eric Kroll, Robert-Koch-Institut
alt, die Zehlendorfer am westlichen Ende der Linie hingegen 81,5 Jahre. »Zieht nach Zehlendorf«, möchte man schlussfolgern, nicht nur, weil es dort sicher mehr Psychotherapeuten gibt. Kroll sieht für die Herausbildung reicher und armer Nachbarschaften folgenden Grund: »Wo es gut ist, gehen Leute hin, denen es gut geht. Wo es schlecht ist, ziehen Leute weg, denen es gut geht.« Am Ende bleiben die Ärmeren in Stadtteilen oder Dörfern mit Abwärtstrend. Auf jeden Fall sind die Disparitäten in der Bundesrepublik in Bezug auf Gesundheit und Lebenserwartung deutlich ausgeprägt – und nehmen in der Tendenz eher noch zu.
Für die Zukunft ab 2018 kündigte Thomas Lampert, ebenfalls vom RKI, im Rahmen des Gesundheitsmonitorings auch eine größere Studie zu Migranten an. In der Debatte ging es in diesen Zusammenhang um zu »schöne« Zahlen zu deren gesundheitlicher und ökonomischer Situation. Hier müsse genauer hingesehen werden, da sowohl EU-Ausländer als auch Menschen aus der Türkei oder arabischen Staaten derzeit statistisch einfach zusammengefasst würden.
Ebenfalls nüchtern fiel die Einschätzung zum gesetzlichen Mindestlohn aus: Er werde wohl keine Verbesserungen hinsichtlich der Erwerbsarmut in Deutschland haben – dazu sei er zu niedrig und das Gesetz lasse zu viele Ausnahmen zu.