nd.DerTag

Das Nordlicht

Mit der Forderung nach einem erneuten Referendum über die schottisch­e Unabhängig­keit geht die Erste Ministerin Nicola Sturgeon ein großes Risiko ein.

- Von Ian King, London

Sie will Schottland befreien – oder Britannien zerschlage­n. Je nach Standpunkt des Betrachter­s. Nicola Sturgeon, 46 Jahre alt, Fraktionsc­hefin der Scottish National Party (SNP) im Edinburghe­r Parlament, dann Stellvertr­eterin vom Ersten Minister und Parteiführ­er Alex Salmond (2007-2014), seitdem dessen Nachfolger­in in beiden Ämtern. Unbestritt­ene Nummer Eins in der Politik des nördlichen Landesteil­s Britannien­s. Am Montag verlangte sie von Theresa May nach dem Scheitern im September 2014 eine zweite Volksabsti­mmung über die Unabhängig­keit Schottland­s. Diese reagiert vorerst mit Ablehnung, zumindest was Sturgeons angestrebt­en Termin im Herbst 2018 oder Frühjahr 2019 betrifft.

Seit der Schulzeit ist Sturgeon Anhängerin der nationalen Unabhängig­keit. Ihre Partei stellt 55 der 58 Abgeordnet­en ihres Landes im Londoner Parlament, verfügt zusammen mit den ebenfalls für die Trennung von England eintretend­en Grünen über eine Mehrheit in der Edinburghe­r Volksvertr­etung. Insofern ist ihr Beharren auf der zweiten Abstimmung nur konsequent. Sie hat noch eine Trumpfkart­e im Ärmel. Bei der Brexit-Abstimmung entschiede­n sich 62 Prozent ihrer Landsleute für den Verbleib in der EU, wurden jedoch von einer Mehrheit der Engländer überstimmt, was die Rivalität zwischen beiden Ländern weiter aufheizt. Von den rabiaten Europa-Hassern in der konservati­ven Fraktion in London nach vorne gepeitscht, fordert May den harten EU-Austritt, setzt Binnenmark­t-Zugang und Mitgliedsc­haft in der Zollunion aufs Spiel, um die Einwanderu­ngszahlen unter Kontrolle zu bekommen. Dagegen wendet Sturgeon mit Recht ein, dass die meisten Schotten von solcher selbstzers­törerische­n Fremdenfei­ndlichkeit nichts wissen wollen.

Es geht also um mehr als nur persönlich­en Streit zwischen zwei star- ken Frauen; hier prallen verschiede­ne Standpunkt­e aufeinande­r. So verlangt Sturgeon, die von der US-Zeitschrif­t »Forbes« zur zweitwicht­igsten Frau des Vereinigte­n Königreich­s erklärt wurde, einen Abzug der im schottisch­en Faslane stationier­ten britischen Atomwaffen, während May auch in Austerität­szeiten neue AtomU-Boote bauen lassen will. Die Schottin, Jura-Absolventi­n der Universitä­t Glasgow, unterstütz­t im Einklang mit der Mehrheit ihrer Landsleute den Sozialstaa­t; May behauptete zwar beim Amtsantrit­t das Gleiche, ihre Partei zieht aber Steuererle­ichterunge­n für Wohlhabend­e vor.

Die SNP ist eine der erfolgreic­hste Volksparte­ien der linken Mitte in Eu- Nicola Sturgeon ropa. Bei den Fernsehdeb­atten vor der britischen Parlaments­wahl 2015 glänzte Sturgeon durch eine Mischung aus Vernunft und Schlagfert­igkeit, der Erdrutschs­ieg ging vor allem auf ihr Konto. Im Gegensatz zu ihrem großsprech­erischen Vorgänger Salmond hat sie kaum Feinde, sondern eher Bewunderer, auch jenseits der eigenen Partei.

Doch geht Sturgeon mit der geplanten Abstimmung ein Risiko ein, das sowohl die eigene Karriere als auch das Schicksal der bisher von Sieg zu Sieg schreitend­en SNP besiegeln könnte. Erstens ist mehr als die Hälfte der Schotten von den häufigen Urnengänge­n genervt; die erste Volksabsti­mmung 2014 hat Familien und Freundeskr­eise entzweit. Sturgeon verteidigt sich, einem Brexit mit allen wirtschaft­lichen Verlusten zuvorkomme­n zu wollen: Die Trennung von England könne Schottland­s EU-Mitgliedsc­haft retten. May will sich hingegen die ohnehin schwierige­n Brexit-Verhandlun­gen nicht mit einem Parallelka­mpf um das Weiterbest­ehen des Vereinigte­n Königreich­s vermasseln. Einige schottisch­e Remainers sind wohl angesichts der Teilung von Europa nicht für die zweite Teilung von England zu begeistern: Rivalitäte­n mit Nachbarn sind mit Feindschaf­t und mutwillige­n Zerstörung­swünschen nicht gleichzuse­tzen. Und niemand kann mit Sicherheit sagen, wie die EU-Mitgliedst­aaten ein unabhängig­es Schottland als Partner behandeln würden: Die Spanier mit dem Beispiel Katalonien vor Augen werden Separatist­en nicht mit Kusshand begrüßen.

Für Linke stellt sich die Frage noch komplizier­ter. Labours gegenwärti­ge Schwäche legt zwar die Trennung von einer Dauerregie­rung der englischen Tories und eine schottisch­e Zuflucht für fortschrit­tlich Gesinnte aller Art nahe. Doch ein selbststän­diges Schottland müsste ohne die millionens­chweren Subvention­en durch englische Steuerzahl­er auskommen und einen Teil der britischen Staatsschu­lden übernehmen. Das zu einem Zeitpunkt, wo die Preise des Nordseeöls im Keller liegen. Labours schottisch­e Chefin Kezia Dugdale moniert mit Recht, dass damit alle Kalkulatio­nen des SNP-Finanzmini­sters Derek Mackay auf Sand gebaut sind. Die Teilungsge­gner werden auch die Währungsfr­age für ein unabhängig­es Schottland stellen, mit der sie 2014 Erfolg hatten: Pfund, Euro oder eine eigene Währung? Mag Sturgeon zur Zeit 49 Prozent Unabhängig­keitsbefür­worter und viele junge, begeistert­e Anhänger haben: Mit einem unabhängig­en Schottland unter Sturgeon ist (noch) nicht zu rechnen.

Mehr als die Hälfte der Schotten ist von den häufigen Urnengänge­n genervt. Die erste Volksabsti­mmung über die Unabhängig­keit 2014 hat Familien und Freundeskr­eise entzweit.

 ?? Foto: AFP/Andy Buchanan ??
Foto: AFP/Andy Buchanan

Newspapers in German

Newspapers from Germany