»Fickt euch frei!«
Weil auf die sexuelle Befreiung der 68er-Bewegung nicht die sozialistische Revolution folgte, haben sich die Linken von den Thesen des Psychoanalytikers und Sozialwissenschaftlers Wilhelm Reich zum Verhältnis von Sexualunterdrückung und Politik abgewandt.
In seiner unter dem Titel »Sexualität und Bindung im Spätkapitalismus« in der »Zeit« veröffentlichten Diagnose konstatiert der Psychoanalytiker Franz Oberlehner, die Onanie sei zur »Zentraleinheit einer ›sexuellen Demokratie‹« geworden, in der »partnerschaftliche Sexualität« ein marktförmiger »Tausch › Orgasmus‹ gegen › Orgasmus‹« ist. Wilhelm Reich gilt gemeinhin als geistiger Urheber dieser, orwellsch »sexuelle Revolution« genannten »Dissoziation des Sexuellen«. Dass dieser Art sexueller › Befreiung‹ nicht, wie erhofft, die sozialistische Revolution folgte, gilt der Linken seither überdies als Beweis für die Falschheit der Reichschen Theorien über das Verhältnis von Sexualunterdrückung und Politik. Es geht hier um eine grundsätzliche Änderung im Erleben des Geschlechtlichen, wie des Lebens überhaupt. Populär ausgedrückt: »›Vögeln‹ ist nicht lieben, sondern das gerade Gegenteil davon«, verteidigte sich Reich schon 1938 gegen die Verdrehung seiner Lehre. Vergebens, denn das »Missverständnis« ist gewollt.
Reich begriff seine Theorie der »Sexualökonomie« als »theoretische Bewusstwerdung« einer geschichtlichen »Tendenz zur Verschärfung der Sexualunterdrückung« und einer ihr »entgegengesetzten zur Wiederherstellung der natürlichen sexuellen Ökonomie«. Die »Verschärfung der Sexualunterdrückung« beginnt laut Reich mit der progressiven Auflösung der auf patrilinearer Erbfolge gründenden patriarchalen Familienordnung während der »ursprünglichen Akkumulation«. Auch die wirtschaftliche Einheit der Familie im Familienlohn des Mannes zerfällt. Denn um das »Ausbeutungsfeld des Kapitals« zu erweitern, wie Marx schreibt, wirft bald »die Maschinerie alle Glieder der Arbeiterfamilie auf den Arbeitsmarkt«.
Der »Konsumzwang« löst die familiare Güter- und Lebensgemeinschaft weiter auf. Die Familienmitglieder können die »Arbeiten, welche der Familienkonsum erheischt«, nicht mehr selbst ausführen. Diese »müssen durch Kauf fertiger Waren ersetzt werden. Der verminderten Ausgabe von häuslicher Arbeit entspricht also vermehrte Geldausgabe.« Die erweiterte Lohnarbeitszeit verkürzt die gemeinsame Lebenszeit.
Diese Tendenz zur Atomisierung der Gesellschaft kommt über eine demografische Krise zum logischen Endpunkt einer technisch vermittelten Fortpflanzung in sensu Aldous Huxley. Die Kommodifizierung der Reproduktionssphäre der vereinzelten Arbeitskraft endet mit einer durch Waren – und letztlich ebenfalls technisch vermittelten Substitution natürlicher Sexualität.
Die Gegentendenz, die Reich meint, ist Teil des proletarischen Klassenkampfes. Im Klassenkampf müssen die Einzelnen, bewusst und von sich aus, ihre Atomisierung durch solidarisches Verhalten überwinden. Der Klassenkampf bildet einen Menschen, der »in seinem individuellsten Dasein zugleich Gemeinwesen ist« und dessen befreite Produktivität zur Basis der kommunistischen Produktionsweise wird. Der junge Marx sah diesen neuen Menschen in einem Geschlechtsverhältnis verwirklicht, in dem »der andre Mensch als Mensch zum Bedürfnis« geworden ist. Reich nannte die ihm entsprechende psychosexuelle Konstitution »Genitalität«. Die kapitalistische Sexualunterdrückung gilt also der Soziabilität des Sexuellen, sie gilt der »Genitalität«.
Jean Pierre Voyer hat 1971 in seiner »Reich-Gebrauchsanweisung« den Widerspruch beider Tendenzen treffend zum Ausdruck gebracht: »Nur weil die universelle Sozialisierung der menschlichen Beziehungen die einzige Form des Wertes angenommen hat, der ihre Negation ist, sind die echten menschlichen, von der Lust besiegelten Beziehungen in dieser Sozialisierung aufbewahrt, als natürliche Beziehungen von Mensch zu Mensch, die insoweit unerlaubt und heimlich sind, denn alle Gesellschaftlichkeit, die ganze Menschheit ist vom Wert besetzt, der einzigen erlaubten Sozialisierung. Was dem Gesetz des Wertes zu entgehen sucht, nimmt folglich die Form des Natürlichen an, das heißt per Definition die Form dessen, was der Beherrschung durch die Menschheit entgeht.«
Der US-amerikanische Sexualforscher Alfred Kinsey definierte »sexuelle Befreiung«, gemäß der Tendenz zur Auflösung von patriarchaler Fa- milie und repressiver Sexualmoral, rein formalistisch als ungehinderten Zugang zum »total-sexual-outlet«. Reichs materialistische Definition »sexueller Befreiung« hingegen ist die Entfaltung der menschlichen Fähigkeit zur »Selbstregulation«, die er »orgastische Potenz« nannte.
Mitte der 1960er Jahre stand die Linke am Scheideweg. Sie konnte sich zur Avantgarde einer dem Kapitalverhältnis funktionalen »sexuellen Revolution« machen, oder sich, wie Rudi Dutschke, einer »repressiven Sexualisierung« entgegenstellen, mit der sich die Gesellschaft »das Triebleben des Einzelnen in repressiver Form« aneigne, »um es sich nicht in subversiver Form entfalten zu lassen«.
»Sexualisierung« bezeichnet psychoanalytisch einen Abwehrmechanismus: einem »prägenitalen« Affekt, der nicht bewusst werden darf, wird ein sexueller Ausdruck gegeben, um auf diese Weise diesen unerträglichen Affekt – etwa Depression oder »innere Leere« – zugleich zu beherrschen und im Verschiebungsersatz abzuführen. Der sexualisierende Neurotiker, so der österreichische Psychoanalytiker Otto Fenichel schon 1931, »leidet an der Unfähigkeit zur Befriedigung und versucht deshalb immer wieder, diese Befriedigung in neuerlicher Wiederholung des Aktes zu erzwingen. Obwohl er einen sexuellen Höhepunkt jedes Mal erleben mag, ist er doch im Reichschen Sinne »orgastisch impotent.« Der nichtneurotische »Orgasmus« ist nach Reichs klinischer Erfahrung »in der Hauptsache Ausdruck ungehemmter, eindeutig gerichteter Hingabe an einen Partner«.
Die sexualpolitische Entscheidung der Neuen Linken gegen Wilhelm Reich und für den Opportunismus fiel im April 1969 im Theorie-Organ des SDS »Neue Kritik« in der Debatte zwischen Wolfgang F. Haug und Reimut Reiche. Reiche hatte in seinem Buch »Sexualität und Klassenkampf« wie Wilhelm Reich zwischen »Genitalität« und sexualisierter »Scheingenitalität« unterschieden. Doch diese Unterscheidung wird wieder verwischt. Dem »kapitalistischen Herrschaftssystem«, schreibt Reiche, »scheint es zu gelingen, eine zugerichtete und kanalisierte Scheingenitalität zu entwickeln und zu steuern. Die kanalisierte Genitalität hat zwar nichts gemein mit der von Reich angestrebten ›sexualökonomischen Selbststeuerung‹, sie ist vielmehr ihr Gegenteil: nämlich Freilassung der genitalen Sexualität im Dienste fremdgesteuerter Herrschaft, nach Marcuses Kategorie ungefähr: repressive Entsublimierung. Soviel müssen wir aus der Funktion der Sexualität im Spätkapitalismus, die Reich im Verblendungszusammen- hang seiner Überschätzung der befreienden Kraft der ›orgastischen Potenz‹ nicht mehr erkannte, doch lernen: Die Befreiung der ›Genitalität‹ bietet keine ausreichenden Garantien mehr dafür, dass die Sexualität zum Motor im Kampf gegen soziale Unterdrückung, ökonomische Ausbeutung und individuelles Elend wird.«
Ein Widersinn: »Scheingenitalität« sei zwar keine »Genitalität« im Sinne Reichs, ja sogar ihr Gegenteil, und dennoch will Reiche gerade mit der kapitalistischen Funktionalität der »Scheingenitalität« plausibel machen, dass Reichs Genitalitätstheorie falsch ist.
Haug nutzt die Halbheiten Reiches weidlich aus. Zur »Abwehr repressiver Entsublimierung« hatte Reiche für die Einheit von Sexualität und Liebe plädiert. Haug zitiert Adorno: »... nur der liebt, wer die Kraft hat, an der Liebe festzuhalten«, und fährt dann fort: »Wenn Reiches Theorien über ›Scheingenitalität‹ auch nur annähernd zutreffend sind« – was Haug bis dahin vehement bestritten hatte –, dann ergehe »die Antwort«, die Reiche gibt, »an einen massenhaft vorherrschenden Typus, der die Kraft nicht hat.«
Dieser verdeckte Hinweis Haugs, Reiche stünde allein da, hat durchschlagenden Erfolg. In seiner »Antwort auf Haug« klagt sich Reiche in einem an die Moskauer Schauprozesse erinnernden Ton selbst an: »Wo ich den genitalen Charakter idealistisch stilisiere, habe ich eine reformistische Forderung vertreten. Ich wollte also den Primat der Genitalität nur ›wirklich‹ herstellen. Die entsprechende ›revolutionäre‹ Forderung hieße: Befreiung der Sexualität auch von ihren genitalen Fesseln.«
Jahre später schreibt Reiche: »Im best case scenario beginnen die Menschen in den entwickelten Gesellschaften sich gerade damit einzurichten, dass etwas am Wesen der Sexualität selbst uns die volle Befriedigung versagt.« Es ist der resignierte Wille, sich mit der »orgastischen Impotenz« zu arrangieren.
Mitte der 1960er Jahre stand die Linke am Scheideweg. Sie konnte sich zur Avantgarde einer dem Kapitalverhältnis funktionalen »sexuellen Revolution« machen, oder sich, wie Rudi Dutschke, einer »repressiven Sexualisierung« entgegenstellen.