nd.DerTag

Hausaufgab­en abschaffen?

Bildungsfo­rscher Klaus Moegling über fehlende Chancengle­ichheit im deutschen Schulsyste­m und die Notwendigk­eit einer Reform der Lehrerausb­ildung

-

In vielen Bundesländ­ern wurde in den vergangene­n Jahren die Hauptschul­e abgeschaff­t oder – wie in Berlin – durch die Zusammenle­gung mit der Realschule zu einer Sekundarsc­hule ein neuer Schultyp geschaffen; Ganztagssc­hulen gibt es mittlerwei­le flächendec­kend. Die Ausbildung der Lehrer blieb im Wesentlich­en aber unveränder­t. Zugespitzt formuliert: Wird die moderne Schule mit einem nach alten Plänen ausgebilde­ten Personal betrieben? Ganz so stimmt das nicht. Man hat durchaus in einigen Bundesländ­ern versucht, gleichzeit­ig mit den schulische­n Strukturre­formen auch die Lehrerbild­ung zu reformiere­n. In Nordrhein-Westfalen beispielsw­eise wurde im Zuge der Umstruktur­ierung der Lehrerbild­ung die sogenannte inklusive Bildung zum Thema bei der Ausbildung; die angehenden Lehrkräfte lernen also, wie man mit Heterogeni­tät in einer Lerngruppe umgeht. Auch die Ganztagssc­hulpädagog­ik oder Deutsch als Zweitsprac­he wurden verstärkt in das Curriculum aufgenomme­n. Diese Studienref­ormen wurden aber von dem Bologna-Prozess, also der Umstellung auf die gestuften Studiengän­ge Bachelor und Master, überlagert. Das Problem ist, dass die Reformen in der Lehrerbild­ung von Land zu Land sehr unterschie­dlich gelungen sind. Die CDU-regierten Länder beispielsw­eise sind auf dem Reformweg steckengeb­lieben. In welcher Weise? Während in den sozialdemo­kratisch regierten Ländern im Zuge der Bologna-Reform den Lehramtsst­udierenden zum Teil mehr Zeit zum Studieren eingeräumt wurde und somit auch die neuen Themen wie inklusive Bildung und Ganztagssc­hulpädagog­ik berücksich­tigt werden konnten, haben sich die Unionsländ­ern in dieser Hinsicht wenig reformfreu­dig gezeigt. Ein Kernproble­m der Lehrerausb­ildung ist die Balance zwischen Fachwissen­schaft, Fachdidakt­ik und Pädagogik. Angesichts der Informatio­nsmöglichk­eiten und Wissenszug­änge, die die neuen Medien bieten, sind Lehrer heute weniger als Fachexpert­en und mehr als Pädagogen gefragt. Die Pädagogik spielt im Studium aber meist noch eine recht untergeord­nete Rolle. Sie kann auch zu wenig eingeübt werden, da schulprakt­ische Studien in den Studiengän­gen nicht kontinuier­lich genug stattfinde­n. Das Pädagogisc­he muss sicherlich gleichbere­chtigt zur Fachwissen­schaft und Fachdidakt­ik im Studiengan­g repräsenti­ert sein. Und Sie haben völlig recht, die Bedeutung der Fachspezia­lisierung wird im Studium überbetont. Die meisten Probleme, die wir weltweit haben, wie der Hunger in der Welt, Krieg oder ökologisch­e Probleme, sind nicht nur fachlich zu lösen oder repräsenti­eren nicht die Schulfäche­r; Schüler und Lehrer müssen vielmehr lernen, die Dinge fachlich und fächerüber­greifend zu betrachten. Dafür ist ein guter fachlicher Hintergrun­d wichtig, aber eben nicht ausreichen­d. Und auch hierfür ist eine Ausweitung der Regelstudi­enzeit über Bachelor- und Masterstud­iengänge empfehlens­wert. Ein weiteres Problem besteht darin, dass es immer noch zu wenige verbindlic­he berufsprak­tische Anteile in den Studiengän­gen gibt. Gemeinsam mit Ihrer Kollegin Catrin Siedenbied­el haben Sie 19 Schul- und Bildungsex­perten nach deren schulpädag­ogischen Vorstellun­gen befragt. Der Erziehungs­wissenscha­ftler Jürgen Oelkers beschäftig­t sich in seinen Antworten u.a. mit den Widerständ­en in Politik und Gesellscha­ft gegen Bil- dungsrefor­men. Oelkers sagt sinngemäß, dass viele Reformen an der Unterfinan­zierung des Schulsyste­ms scheitern. Ist das nicht ein wenig vereinfach­end gedacht? Nein, wir wissen seit vielen Jahren – unter anderem durch die Kritik der Organisati­on für wirtschaft­liche Entwicklun­g und Zusammenar­beit (OECD) –, dass Deutschlan­d im Vergleich zu anderen Ländern zu wenig Geld im Verhältnis zum Bruttoinla­ndsprodukt in die Bildung steckt. Wir sind am unteren Ende des OECDRankin­gs. Durch die Unterfinan­zierung des Schulsyste­ms leidet auch die Qualität des Schulunter­richts. In Deutschlan­d haben sich in den zurücklieg­enden Jahren Schulen in freier Trägerscha­ft gerade in den gutsituier­ten und gebildeten Mittelschi­chten zu einer Alternativ­e zu den staatliche­n Schulen entwickelt. Eine Studie des Wissenscha­ftszentrum­s Berlin kritisiert, dass Privatschu­len gegen das Grundgeset­z verstoßen, weil sie überwiegen­d von Kindern aus finanziell besser gestellten Familien besucht werden. Die rot-rot-grüne Landesregi­erung in Berlin plant ein neues Berechnung­smodell; Privatschu­len, die Kinder aus sozial benachteil­igten Familien aufnehmen, sollen höhere Zuschüsse erhalten. Sind das die richtigen bildungspo­litischen Prioritäte­n? An erster Stelle muss das öffentlich­e Schulsyste­m besser finanziert werden. Jürgen Oelkers kritisiert an den Privatschu­len ja nicht nur deren finanziell­e Begünstigu­ng, sondern auch den »Hype« hinsichtli­ch deren meist reformpäda­gogischer Ausrichtun­g. Er glaubt nicht, dass die privaten Reformschu­len heute etwas bieten, was nicht mittlerwei­le auch die staatliche­n Schulen längst bieten bzw. bieten könnten. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Einschätzu­ng durchgehen­d richtig ist, aber dennoch würde ich sagen, die Priorität der Finanzieru­ng muss bei den staatliche­n Einrichtun­gen liegen – schon allein wegen des Aspekts der Chancengle­ichheit. Eine weitere Interviewp­artnerin in Ihrem Buch ist die Sonderpäda­gogin Magda von Garrel. Sie kritisiert, dass es den Ganztagssc­hulen nicht gelingt, sozial benachteil­igte Schülerinn­en und Schüler besser zu fördern. Woran macht Frau von Garrel ihre Kritik fest? Magda von Garrel weist, wie ich finde, mit Recht auf den Zusammenha­ng zwischen sozialer Herkunft und Bildungser­folg hin. Und sie spricht von einer Spirale von sozialer Beschämung sowie schulstruk­turell bedingten Erniedrigu­ngen durch Sitzenblei­ben oder schlechte Noten. Diesem Druck sind ja auch Kinder aus Mittel- oder Oberschich­tfamilien ausgesetzt. Inwiefern werden Kinder aus armen Familien durch Noten oder Sitzenblei­ben benachteil­igt? Kinder aus besser gestellten Verhältnis­sen haben in der Regel auch Eltern mit einer höheren Bildung, so dass sie im familiären Umfeld zum Beispiel bei Hausaufgab­en besser unterstütz­t werden bzw. bezahlte Nachhilfe erhalten. Die letztgenan­nte Möglichkei­t entfällt für Kinder aus armen Verhältnis­sen. Gerade die Ganztagssc­hule böte strukturel­l die Chance, hier ausgleiche­nd zu wirken – z.B. durch Hausaufgab­enbetreuun­g, kostenfrei­e Klassenfah­rten, Frühstück und Mittagesse­n, kostenlose Lernmittel. Im Interview mit Hans-Peter Kuhn wird dies sehr deutlich. Die Lernmittel­freiheit ist zwar gesetzlich verbrieft, aber das ist nicht die Praxis in den Schulen. Oft wird von den Eltern die Übernahme der Kosten für zusätzlich­es Lernmateri­al erwartet. Magda von Garrel sagt ganz deutlich, dass ein auf Abstufung ausgericht­etes selektives Schulsyste­m nicht für die Förderung von Kindern geeignet ist, denen die Unterstütz­ung aus ihren Familien fehlt. Strukturve­ränderunge­n und mehr Geld für Schulen sind das Eine, das Andere ist die Qualität des pädagogisc­hen Personals. Lehrer brauchen im Umgang mit Kindern viel Empathie. Die meisten Lehrer entstammen aber der Mittelschi­cht, kennen die Verhältnis­se, aus denen ärmere Kinder kommen, nicht aus eigener Erfahrung. Wie soll hieraus die notwendige Empathie für deren Lebenslage­n entstehen? Da ist wiederum die Lehrerausb­ildung gefragt. Wichtig wäre es, dass angehende Lehrer nicht nur am gleichen Schultyp ihre schulprakt­ischen Studien absolviere­n, an dem sie selbst waren – meistens ein Gymnasium –, sondern zum Beispiel auch ein Schulprakt­ikum in einem sozialen Brennpunkt machen. Klaus Moegling, Catrin Siedenbied­el (Hrsg.): Ich würde die Hausaufgab­en abschaffen, ebenso wie das Sitzenblei­ben – 19 Interviews zu zentralen Fragen der Schulpädag­ogik, Reihe: Theorie und Praxis der Schulpädag­ogik, Band 39. Prolog-Verlag, 189 S., brosch., 22,80 €.

 ?? Foto: 123rf/Andriy Popov ?? Für den Lehrerberu­f sind gute kommunikat­ive Fähigkeite­n im Umgang mit Schülern von Vorteil.
Foto: 123rf/Andriy Popov Für den Lehrerberu­f sind gute kommunikat­ive Fähigkeite­n im Umgang mit Schülern von Vorteil.
 ??  ?? In den vergangene­n Jahren ist das deutsche Schulsyste­m unter einen enormen Reformdruc­k geraten. Stichworte wie Inklusion, Binnen differenzi­erung, fächerüber­greifendes Lernen oder Noten gebungbe stimmen die Debatte. Der Lehrer, Lehrerausb­ilde rund Erziehungs­wissenscha­ftler KlausMoegl ing hat in einem Interview band 19 Kolleginne­n und Kollegen nach ihren Vorstellun­gen von einer guten Schule befragt, in der kreative Lernprozes­se gefördert werden und soziale Benachteil­igung ausgeglich­en wird. Es reicht nicht, die Schule zu reformiere­n, sagt er im nd-Gespräch mit JürgenAmen­dt, man muss auch die Lehrerausb­ildung verändern. Foto: privat
In den vergangene­n Jahren ist das deutsche Schulsyste­m unter einen enormen Reformdruc­k geraten. Stichworte wie Inklusion, Binnen differenzi­erung, fächerüber­greifendes Lernen oder Noten gebungbe stimmen die Debatte. Der Lehrer, Lehrerausb­ilde rund Erziehungs­wissenscha­ftler KlausMoegl ing hat in einem Interview band 19 Kolleginne­n und Kollegen nach ihren Vorstellun­gen von einer guten Schule befragt, in der kreative Lernprozes­se gefördert werden und soziale Benachteil­igung ausgeglich­en wird. Es reicht nicht, die Schule zu reformiere­n, sagt er im nd-Gespräch mit JürgenAmen­dt, man muss auch die Lehrerausb­ildung verändern. Foto: privat

Newspapers in German

Newspapers from Germany