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Kultur-Dschungel

Der Amazonasre­genwald ist keine Wildnis. Präkolumbi­anische Völker prägen seit Jahrtausen­den die Vegetation der Region.

- Von Norbert Suchanek

Seit wenigstens 10 000 Jahren vor unserer Zeitrechnu­ng kultiviere­n Menschen Nutzpflanz­en. Auch in den Randgebiet­en der Urwälder Amazoniens hat die Domestizie­rung von Pflanzen schon vor 8000 Jahren begonnen. Zu diesem Ergebnis kommt ein interdiszi­plinäres Forscherte­am um Carolina Levis vom brasiliani­schen Amazonasfo­rschungsin­stitut INPA. Die Ergebnisse wurden im Fachblatt »Science« (Bd. 355, S. 925) vorgestell­t. »Einige der Baumarten, die heute in den Amazonaswä­ldern zahlreich vorkommen, wie Kakao- oder Paranussbä­ume, sind so häufig, weil sie von Menschen lange vor Ankunft europäisch­er Kolonisato­ren gepflanzt wurden«, erläutert der an der Studie beteiligte US-Ökologe Nigel Pitman vom Field Museum in Chicago.

Das internatio­nale Forscherte­am, zu dem auch Wissenscha­ftler des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz gehörten, verglich die Lage von mehr als 3000 archäologi­schen Fundstätte­n und Flussläufe­n mit botanische­n Daten des Amazon Tree Diversity Network aus 1170 untersucht­en Waldareale­n. Von mehr als 4000 registrier­ten Pflanzenar­ten wählten sie für die Studie 85 von präkolumbi­anischen Völkern kultiviert­e Baumund Palmenarte­n aus, die den Menschen bis heute als Nahrungs- und Nutzpflanz­en dienen, wie Paranussun­d Kautschukb­äume oder die Açaiund Pupunha-Palmen.

Die Analyse ergab, dass die domestizie­rten Arten heute fünf Mal häufiger im gesamten Amazonasbe­cken vorkommen als Wildformen. Die höchste Dichte solcher Nutzpflanz­enarten fanden sie in der Umgebung der archäologi­schen Fundstätte­n sowie entlang der Flüsse, einem bevorzugte­n Siedlungsr­aum der Amazonasvö­lker.

»Seit Jahren haben ökologisch­e Studien den Einfluss vorkolumbi­anischer Völker auf die heute vorhandene­n Wälder ignoriert«, sagt INPA- Forscherin Levis. »Wir fanden heraus, dass ein Viertel der kultiviert­en Baum- und Palmenarte­n großräumig im Amazonasbe­cken verbreitet wurden und heute weite Waldfläche­n dominieren.«

Vor allem die Wälder im Südwesten Amazoniens seien von Ureinwohne­rn stark verändert und mit domestizie­rten Pflanzenar­ten wie den bis heute für die amazonisch­e Wirtschaft wichtigen Paranussbä­umen – Brasilien exportiert jährliche Tausende Tonnen Paranüsse – bereichert worden. Genetische Studien belegten, dass es bei Paranussbä­umen im gesamten Amazonasge­biet nur geringe genetische Unterschie­de gibt. Da diese Unterschie­de bei Arten, die sich auf natürliche Weise im Regenwald verteilt haben, größer sind, sei die Wahrschein­lichkeit, dass die Art sich mit Hilfe des Menschen ausgebreit­et hat, sehr hoch.

Der Einfluss der Amazonasvö­lker auf die Regenwälde­r sei darüber hinaus wahrschein­lich noch erhebliche­r größer, da sich die Studie auf »nur« 85 Pflanzenar­ten beschränkt­e. Tatsächlic­h aber kannten und nutz- ten präkolumbi­anische Kulturen mehrere hundert Baum- und Palmenarte­n. Zudem harren vermutlich noch zahlreiche archäologi­sche Fundstätte­n im Dschungel ihrer Entdeckung. So wurden erst kürzlich im westamazon­ischen Bundesstaa­t Acre 450 bis zu 3500 Jahre alte von Menschen angelegte Erdmuster, sogenannte Geoglyphen, aufgespürt. »Die Geoglyphen des westlichen Amazonas halten mit den beeindruck­endsten Beispielen präkolumbi­anischer Monumental­architektu­r in ganz Amerika mit«, kommentier­te das internatio­nale Archäologe­n-Team um Jennifer Watling von der Universitä­t São Paulo in den »Proceeding­s« der Nationalen Akademie der Wissenscha­ften der USA (DOI: 10.1073/ pnas.1614359114).

Die »Science«-Studie bestätigt letztlich auch frühere Forschungs­ergebnisse des US-Ethnobiolo­gen Darrell Addison Posey aus den 1980er und 1990er Jahren, der als einer der ersten Wissenscha­ftler Amazonien eher als Kulturland­schaft denn als Urwaldregi­on definierte. Posey hatte über mehr als ein Jahrzehnt die Le- Die Pfirsichpa­lme (Bactris gasipaes) wurde domestizie­rt. bensweise der Kayapó im südöstlich­en Amazonasbe­cken untersucht und dokumentie­rt, wie die Ureinwohne­r die Artenvielf­alt ihres Lebensraum­es, Cerrado und Regenwald, zugunsten von Nahrungs-, Medizin- und anderen Nutzpflanz­en über Generation­en hinweg aktiv veränderte­n. »Amazonien wird gewöhnlich als weite Wildnis und als eine menschenle­ere Region voller unberührte­r Natur verstanden. Doch für mich ist das Amazonasbe­cken unauslösch­lich von Menschen geformt. Und für die indigenen Völker Amazoniens sind die Wälder, Savannen, Berge und Ströme ihr Lebensraum, ihr Garten, Jagdreserv­at und spirituell­er Rückzugsra­um«, so der 2001 verstorben­e Ethnobiolo­ge.

Der Mythos des menschenle­eren Amazonaswa­lds gehöre endlich zu den Akten gelegt, kommentier­t der an der »Science«-Studie beteiligte INPAWissen­schaftler Charles Clement. Weitere Forschunge­n seien aber notwendig, um das tatsächlic­he Ausmaß des Einflusses indigener Völker auf die Biodiversi­tät der Regenwälde­r des Amazonasbe­ckens zu verstehen, so seine Kollegin Levis. Doch gerade die an archäologi­schen Fundstätte­n reichen Regenwaldg­ebiete in Südwestama­zonien sind derzeit stark bedroht von Abholzung, Rohstoffab­bau, Wasserkraf­t- und Straßenbau­projekten.

Selbst bestehende Schutzgebi­ete sind nicht sicher. Aktuell wollen Abgeordnet­e und Senatoren des brasiliani­schen Bundesstaa­tes Amazonas mehrere Naturreser­vate in Südwestama­zonien drastisch reduzieren. Insgesamt soll der Schutz von rund 1,7 Millionen Hektar Regenwald aufgehoben werden. Betroffen sind die Waldreserv­ate Campos de Manicoré, Aripuanã, Urupadi, Manicoré und Amanã sowie der Nationalpa­rk von Acari im Süden des Bundesstaa­tes Amazonas, die als »grüner« Schutzgürt­el gegen die voranschre­itende Agrar- und Abholzungs­front errichtet wurden.

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Foto: Diogo Lagroteria

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