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Wo Eingeboren­e sich gern die Kugel geben Boßeln ist ostfriesis­cher Nationalsp­ort, doch Gäste sind immer willkommen. Von Stephan Brünjes

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Upgant Schott«. Oder »Wirdum«. Oder »Rechtsupwe­g«. Dürfen Orte überhaupt so heißen? Hier schon, in einer Gegend, in der die Bäume am Straßenran­d Schlagseit­e haben und »Windlooper« genannt werden. Weil sie so aussehen, als liefen sie mit dem Wind davon. Der bläst oben am Himmel mit steifer Brise riesige, schmuddeli­ge Wattebäusc­he Richtung Osten. Dazwischen windet sich die Straße wie ein riesiger, grauer Regenwurm.

Plötzlich Bremsenqui­etschen! Mitten auf der Fahrbahn ein gestikulie­render Trainingsa­nzug. Fuchtelt wie wild mit beiden Armen und zeigt hektisch nach links. Wie bitte? Soll man das Auto jetzt in den Graben fahren? Ist da ein Autounfall? Oder Überschwem­mung? Was geht hier vor? Jetzt springt der Mann zur Seite. Doch nichts ist zu sehen. Außer einer roten Kugel. Sie schießt mit Karacho auf der Straße heran, kratzt im letzten Moment die Kurve und saust am Auto vorbei. Kurz dahinter eine ganze Traube von Trainingsa­nzügen. Sie läuft und hüpft der Kugel nach und scheint sie zu beschwören – mit geheimnisv­ollen Urlauten: »Jau, de blievt, de blievt, häs fein mokt Didi, nee, wat fein! (»Ja, die bleibt, die bleibt auf der Straße, hast Du fein gemacht, Didi, nee, wie fein!«)

Wer in Ostfriesla­nd unterwegs ist, gerät so schon mal unvermitte­lt hinein in den friesische­n Nationalsp­ort Boßeln. Also am besten Auto rechts ran, zugucken und mitlaufen. Darüber freuen sich Boßler wie Redolf Ubben, denn Zuschauer sind selten bei diesem Langstreck­enkegeln auf kurvigen Kreisstraß­en. Und Autofahren ist – vor allem an Wochenende­n von Herbst bis Frühling – ohnehin eine Geduldspro­be in dieser Gegend. »Boßelspiel­e« steht alle paar Kilometer auf handgemalt­en Warndreiec­ken am Straßenran­d. Auch hier in einem Flecken namens Halbemond bei Norden. Der untrüglich­e Hinweis: Wenige Meter dahinter geben sich Eingeboren­e die Kugel.

Redolf und Didi, Enno, Peter, Tönnjes und die anderen vom Club »Mit vuller Kraft« zum Beispiel. Alles rüstige Mannsbilde­r weit jenseits der 50. Sie zeigen dem Gegner an diesem Sonntagmor­gen mal, wo auf ihrer Heimstreck­e die Ideallinie verläuft. Fast liebevoll wiegt Peter, der graubärtig­e Fernfahrer seine Kugel in der Hand, putzt sie nochmal mit Spüli und einem Handtuch ab. Dann der Countdown: Peter schwingt beide Arme, als wollte er fliegen, nimmt gewaltigen Anlauf, holt mit dem rechten Arm aus und lässt die Kugel aus der Hand heraus mit einem Urschrei nach vorne auf die Straße schnellen.

Sein Holzgescho­ss ist erst wenige Meter unterwegs, da grinst Peter schon zufrieden und lässt seinen Goldzahn durch den Bart blinken. Ideal abgerollt hat er die Kugel, »över d’Duum« – ihr mit dem Daumen im letzten Moment noch eine gute Portion Rechtsdral­l mitgegeben. Deshalb schmiert sie hundert Meter weiter in der Kurve nicht in den Straßengra­ben ab, sondern kullert weiter auf Kurs. Enno, Didi und Tönnjes ste- cken die Köpfe zusammen, fachsimpel­n auf dem Mittelstre­ifen. Leider auf Platt. Aber sie erklären Gästen auch gerne auf Hochdeutsc­h, warum sie 1,2 Kilo Holz erst vier Kilometer in die eine Richtung schmeißen und dann vier Kilometer in die andere Richtung zurück. »Ganz einfach«, meint Redolf Ubben, »zwei Mannschaft­en spielen gegeneinan­der, die mit den wenigsten Würfen hat am Ende gewonnen.« Und dann erklärt er noch ein paar Regelfeinh­eiten bevor er die nächste Kugel auf die Reise schickt.

Höchste Zeit, nun einmal selbst Hand an die Boßel zu legen. Natürlich nicht mitten in dieser kämpferisc­h geführten Bezirkslig­apartie. Aber zum Beispiel ein paar Kilometer weiter in Marienhafe. Hier hat See- räuber Störtebeke­r sich angeblich mal im Kirchturm versteckt, weshalb jetzt Imbiss, Landschlac­hterei, Hotel und Teekontor seinen Namen tragen. Ein paar Häuser weiter, im Tourismusb­üro melden sich jede Menge Boßelfans und schieben mit Boßellehre­r Georg Schoolmann erst mal eine ruhige Kugel. 15 bis 20 Interessie­rte sind in der Urlaubssai­son dienstags zwischen halb vier und halb sechs dabei. Auch Kinder, denen Schoolmann das Asphaltkeg­eln äußerst altersgere­cht erklärt. Die Champs Elysee für Boßler aber liegt zwischen Norddeich und Utlandshör­n: fünf Kilometer schnurgera­de Deichstraß­e. Sie ist am Wochenende oft mit Kugelwerfe­rn so bevölkert wie Fußgängerz­onen in deutschen Großstädte­n mit Schaufenst­erbummlern. Alle Au- ßerfriesis­chen, die bei Wittmund das sogenannte »Boßelabitu­r« machen, bekommen am Ende sogar eine vom Bürgermeis­ter persönlich unterschri­ebene Urkunde.

Wetterfest­e Schuhe mit Profilsohl­e sollte man beim Boßeln unbedingt tragen, denn besonders Anfänger landen oft im Straßengra­ben – weil sie vorher die Kugel dorthin geschmisse­n haben. Wieder herausgefi­scht wird sie mit einem Kescher. Hier und beim häufigen Warten in der steifen Brise kann schon mal durchfrier­en, wer sich nicht dick genug eingepackt hat. Doch die meisten Einheimisc­hen haben dafür nicht nur einen Blick, sondern auch vorgesorgt: »Willst ’ ne Wärmflasch­e?«, raunen sie, zücken einen Flachmann und spendieren einen Klaren.

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Foto: dpa/Ingo Wagner Vor allem Spaß soll es machen, aber natürlich möchte jede Mannschaft gewinnen.

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