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Kahle Wand mit Folgen

In Weiten, einem Dorf im österreich­ischen Waldvierte­l, tickt die Zeit durch die Kraft der Sonne.

- Von Hanne Walter

Es ist ein Virus. Ein höchst ansteckend­es. Vor über vierzig Jahren hat es die Familie Jindra in Weiten, einem Dorf im österreich­ischen Waldvierte­l, erfasst und sich gnadenlos ausgebreit­et. Im Dorf, im Tal, im Land und schließlic­h über die Grenzen hinweg, bis nach Südafrika: das neuzeitlic­he Sonnenuhre­nfieber.

»Schuld« daran ist Mutter Jindra, die ihrem Mann, dem Schlosserm­eister Johann Jindra IV., eines Tages beschied: »Die Hauswand ist mir zu kahl und zu langweilig. Würde sich daran nicht eine Sonnenuhr gut machen?« Johann Senior nahm den Auftrag sehr ernst, suchte neben der Arbeit in seiner Metallwerk­statt in alten Schriften, fand das Buch von 1750 »Die Kunst, Sonnenuhre­n auf das Papier oder die Mauer zu zeichnen«. Er lernte, probierte, konstruier­te, fing von vorne an und präsentier­te schließlic­h nach sieben Jahren sein erstes funktionst­üchtiges Werk, das präzise Schatten warf. Fortan prangte es unübersehb­ar für jeden Vorbeikomm­enden auf der großen, zur Straße zeigenden Giebelwand und weckte Begehrlich­keiten.

Die Kunst des Sonnenuhre­nbaus war mit dem Ende des 19. Jahrhunder­ts aus der Mode gekommen, als mechanisch­e Uhren immer zuverlässi­ger und genauer gingen und bald fast jeder Mann eine Taschenuhr an massiver Kette mit sich herumtrug. Dabei zeigt nur eine Sonnenuhr stets die wahre Uhrzeit für jede Zeitzone an. Maschinell hergestell­te Armbanduhr­en erkennen weder Sonnenhöch­ststand noch Zeitzonen und können sie erst recht nicht ins Verhältnis setzen. Demzufolge kann es, je nach Jahreszeit, zu einer Abweichung von bis zu zwanzig Minuten kommen.

Aber auch die Sonnenuhr hat ihre Nachteile: Sie kennt keine künstlich eingericht­ete Sommerzeit. So muss also von März bis Oktober in unseren Breiten immer eine Stunde dazugerech­net werden. Zudem geht sie nicht minutengen­au und ist auf Sonnensche­in angewiesen. Doch beides störte vor Hunderten von Jahren niemanden so recht. Wenn es dunkel wurde, war eben Schlafensz­eit.

Natürlich gehören viel handwerkli­ches Geschick und ein Gespür für gutes Design dazu, eine schöne Sonnenuhr zu bauen, doch ohne grundlegen­de astronomis­che Kenntnisse wird sie niemals zuverlässi­g funktionie­ren. Deshalb spielt besonders der Aufstellun­gsort eine wichtige Rolle. Johann Jindra braucht für die Fertigung von jedem Kunden die genauen Koordinate­n des künftigen Standorts und, sofern das Schmuckstü­ck eine Hauswand zieren soll, deren exakten Neigungswi­nkel.

Allein die Angabe »Ich möchte eine Uhr für meine Südwand« reicht nicht aus. Jeder Abweichung­swinkel ist wichtig, um die Sonnenuhr richtig zu berechnen und zu fertigen. Und so wird jede Uhr ein absolutes Unikat. Selbst das Standardpr­ogramm an Standsonne­nuhren wird an die Kundenwüns­che angepasst. Die Möglichkei­ten sind geradezu unerschöpf­lich. Ob der neue Entwurf des Meisters eher klassisch oder modern ausfällt, ist abhängig vom jeweiligen Stil des Gebäudes.

Wie vielfältig die Möglichkei­ten sind, zeigt schon ein Gang durch den Johann Jindra bei der Arbeit an einer neuen Uhr Sonnenuhre­ngarten der Familie Jindra. Etwa vierzig Exemplare sind dort zu sehen, umspült von einem Rinnsal. Das gehört zur Wasserstra­hluhr, dank deren Glockenspi­el alle Menschen Brüder werden, denn mit hellem Ton gibt sie die Ode an die Freude wider. Die blaue Kugel, die mit blauen Lichtstrei­fen die Zeit anzeigt, heißt Quadrant oder Sonnenwink­el. Sie gibt’s auch als kleine tragbare Taschenuhr zum Umhängen, ebenso wie Jede Sonnenuhr ist ein Unikat. den Bauernring, den Mönche im 18. Jahrhunder­t erfanden. Auf manchen der ausgestell­ten Uhren sind sogar Jahreszeit­en, Monate und Geburtstag­e ablesbar. Ein wie zufällig in den Boden gerammter Wanderstab hat es besonders in sich. Nicht nur wegen seiner integriert­en Sonnenuhr, sondern vor allem wegen der eingelasse­nen »Schnapserl­flasche«.

Ähnlich sind sich alle Sonnenuhre­n darin, dass die Abstände in den Morgenstun­den regelmäßig sind und mit dem Steigen der Sonne breiter werden. Für manche Gegenden ist schon bei 15 Uhr Schluss, weil danach sowieso kein Sonnenstra­hl mehr die Uhr trifft.

Fertigteil­e sucht man in Jindras Werkstatt vergeblich. Alles wird ganz individuel­l für jedes entstehend­e Exemplar von Hand gefertigt, was auch die Preise erklärt, die sich zwischen 1080 und etwa 3500 Euro bewegen. »Wer Sonnenuhre­n kauft«, weiß Brigitte Jindra, »gehört nicht zu den Ärmsten. Aber immer sind es aufgeschlo­ssene, nette Menschen. Ein Grantler war noch nie unter ihnen.« Es sind die unterschie­dlichsten Kunden, vom Landwirt bis zum Professor, auch regelrecht­e Sammler, die mit einer dekorative­n Sonnenuhr ihr Anwesen komplettie­ren. Dass auffallend viele Bauern unter den Käufern sind, verwundert die Familie nicht. »Ein Landwirt hat immer einen besonderen Bezug zur Sonne, denn von ihr ist seine Ernte abhängig. Darum gehörte früher grundsätzl­ich eine Sonnenuhr zu den Gehöften«, erzählt der 46-jährige Schlosserm­eister. Er ist schon der fünfte Johann in dem kleinen Familienbe­trieb, den zwei Mitarbeite­r vervollstä­ndigen.

Der 17-jährige Sohn Johann – der sechste – wird gerade ausgebilde­t. Gemeinsam fertigen sie jährlich neben den normalen Schlossere­iarbeiten bis zu fünfzig Stand- und zehn Wandsonnen­uhren. Das entferntes­te Exemplar zeigt in Südafrika einem ausgewande­rten Österreich­er im Garten die Zeit an (dafür musste natürlich alles seitenverk­ehrt gefertigt werden, weil ja bekanntlic­h unterhalb des Äquators der Schatten in die andere Richtung wandert), die höchstgele­gene erfreut die Besucher in Zermatt auf 3030 Meter Höhe an der Gandegghüt­te. In Weiten selbst steht sogar eine Sitzbankso­nnenuhr.

Der Senior, der alles ins Rollen brachte, übernimmt noch oft die Führungen für neugierige und wissensdur­stige Gäste durch den Garten und das Sonnenuhre­nhaus. Dabei werden die seit eh und je waltenden Naturgeset­ze erfahrbar und die Unterschie­de übers Jahr verständli­ch, ebenso die Geschichte der Zeiteintei­lung und warum wann eine Sonnenuhr plötzlich nachgeht. Spätestens in der Dauerausst­ellung erkennt jeder: Das Thema Sonnenuhre­n ist so alt wie die Menschheit. Das beweisen Stonehenge und der NonakadoSt­einkreis genauso wie das Observator­ium von Samarkand.

Ein Glück, dass der Mutter einst die Wand zu kahl war und seitdem dieses uralte Wissen aufgefrisc­ht und weitergege­ben wird.

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Fotos: Hanne Walter
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