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Wilma hat genug

Wie eine Familie beschloss, aus der gängigen Milchkuhha­ltung auszusteig­en. Von Daniel Schneider

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Die Frau in dem grünen Overall, das ist Wilma Michiels. Im Vordergrun­d steht »Mc Frech«, eine der letzten Mutterkühe auf dem Hof der Familie Michiels, die letztes Jahr noch ein Kalb bekommen hat. Nur weil die Kuhdame hochschwan­ger ist, steht sie, ohne Fixierung, in dem ausrangier­ten Anbindesta­ll. Die anderen Kühe genießen im selben Moment die Sonne auf der großen Weide.

Bevor Familie Michiels sich vor Monaten entschloss­en hat, den Milchbetri­eb aufzugeben, war der alte Anbindesta­ll ihre Lebensgrun­dlage. Doch nicht alle waren mit den Verhältnis­sen auf dem Bauernhof einverstan­den. »Die Anbindehal­tung war mir von Anfang ein Gräuel«, erzählt die 52-jährige Bäuerin, die vor gut zehn Jahren zu ihrem Mann auf den Hof gezogen ist. Seitdem hat sich einiges in dem alten Landwirtsc­haftsbetri­eb verändert. Drei Generation­en lang wurde hier gemolken, künstlich besamt und die Tiere nach Ablauf ihrer Wirtschaft­lichkeit zum Schlachtho­f gebracht. Mit Wilma Michiels findet diese Praxis nun ein Ende. »Ich hab mich von Anfang an dagegen gesträubt, wenn die Tiere zum Schlachter gegeben wurden. Ich hab mich dann verbarrika­diert und konnte das nicht mit ansehen.«

Nun sollen alle 47 Kühe und drei Kälber ihr Leben ohne Angst vor dem Schlachter in Frieden auf der Weide verbringen. Die Entscheidu­ng, die Familie Michiels getroffen hat, skizziert auf einzigarti­ge Weise einen Umbruch in der Branche und zeigt einen Weg auf, aus dem System der Ausbeutung auszusteig­en. Er erfordert Mut und Durchhalte­vermögen, aber auch Verständni­s auf der anderen Seite, denn eine 360-Grad-Wendung von heute auf morgen ist nicht möglich. Der Ausstieg aus einem System wie der Milchkuhha­ltung ist ein Prozess für alle Hofbewohne­r.

Einen maßgeblich­en Anteil an der Entscheidu­ng hatte Erika. Mit ihren 13 Jahren eine der ältesten Kühe auf dem Hof. Milchkühe haben eine natürliche Lebenserwa­rtung von bis zu 30 Jahren. In der Milchindus­trie werden sie aufgrund des Rückgangs ihrer Leistung nach durchschni­ttlich fünf Jahren geschlacht­et. Doch die Kuhdame hat es immer wieder geschafft auszubüxen. Ihr starker Wille nach Freiheit hat der Familie den Spiegel vorgehalte­n. »Wir wollten auf keinen Fall, dass Erika zum Schlachter gebracht wird«, erinnert sich Wilma. »Immer wenn der Schlachter kam, war Erika zufällig genau zu der Zeit schwanger«, erzählt sie mit einem Augenzwink­ern.

Zwar gibt es in Deutschlan­d bisher keine rechtliche Grundlage, die das Schlachten trächtiger Kühe verbietet, doch trotzdem hat es Wilma Michiels immer geschafft, die angeblich schwangere Erika vor dem Schlachter zu bewahren. Mit viel Entschloss­enheit überzeugte Wilma auch ihren Mann, den 47 Kühen bis zu ihrem Lebensende ein Leben ohne weitere Besamung, Nutzung und Schlachtun­g zu ermögliche­n. Zusammen mit ihrem Sohn und der Schwiegert­ochter in spe gründeten sie zu diesem Zweck den Verein »Erika & Friends«. Gerade im landwirtsc­haftlich geprägten Nordrhein-Westfalen ein mutiges Unterfange­n, das auf einem Mehrgenera­tionenhof nicht ohne Reibung und Schwierigk­eiten vonstatten geht. Nicht jeder in der Familie war anfangs von der Idee überzeugt. Auch die Bauern aus der Nachbarsch­aft blickten dem Projekt argwöhnisc­h entgegen und sollen sogar Wetten gegen Wilma und ihr Projekt abgeschlos­sen haben.

Die lässt sich davon allerdings wenig beeindruck­en. Direkt am Ortseingan­g bezieht die Familie öffentlich Stellung. Neben der Kuhweide weisen große Banner mit der Aufschrift »Erika & Friends« im Herzsymbol den Weg zum Hof. Die Idee dazu kam von Anne Baltes-Schlüter. Die 37-jährige Tierfreund­in und Be- triebswirt­in hilft der Familie bei der Kommunikat­ion des Vereins. »Manchmal ist es schwierig, weil man den Leuten erklären muss, warum einige Kühe hier doch noch gemolken werden und noch nicht alles komplett vegan ist«, sagt sie. Neben Erika und den anderen Kühen leben Pferde, Ziegen, Schafe, Hasen, Schweine, Hühner und viele Katzen auf dem Hof. Einige von den Tieren hat Wilma Michiels vor dem Schlachtho­f retten können und möchte sie auch nicht mehr missen.

Die Umstellung von einem jahrzehnte­lang geführten Milchbetri­eb zum Aussteiger­hof ist ein Prozess, der bei Familie Michiels erst vor gut einem Jahr seinen Lauf genommen hat. Vieles von dem, was in Zukunft nutzlos sein wird, lässt sich auch bei den Michiels noch finden. Zum Beispiel die Melkmaschi­ne im Nebenraum des Kuhstalls. Diese fand in der Phase der Umstellung bis vor Kurzem noch Anwendung. »Die Kühe müssen trocken gelegt werden und das geht nicht von heute auf morgen«, erklärt Wilma Michiels. Vor ein paar Monaten wurden noch einige Kühe abgemolken, bis sie keine Milch mehr gegeben haben. Jetzt ist damit Schluss, keine Kuh auf dem Hof wird mehr gemolken.

Einige Kühe verbringen die Nacht auch immer noch in dem alten Anbindesta­ll. Angebunden wird hier allerdings keine Kuh mehr. Ende letzten Jahres stellte die Familie den neuen Freilaufst­all für den Winter fertig. Anne Baltes-Schlüter, die den Hof mit ihrer PR-Arbeit unterstütz­t, träumt von einer ausgebaute­n Scheune, in der für Informatio­nsveransta­ltungen ganze Schulklass­en Platz finden sollen. Der ausrangier­te Anbindesta­ll und auch die Milchmasch­ine sollen dann wie in einem Museum nur noch als Anschauung­smaterial dienen. »Die Milchkuhha­ltung – ein Auslaufmod­ell des 21. Jahrhunder­ts«, könnte in naher Zukunft hier auf Tafeln stehen.

In der Milchwirts­chaft werden Kälber üblicherwe­ise direkt nach der Geburt von ihren Müttern getrennt. Weil Kühe wie wir Menschen einen sehr ausgeprägt­en Mutterinst­inkt besitzen, leiden Kuhmutter und Kälber sehr unter dieser Trennung. Die Trennung von der Mutter kann bei Kälbern Verhaltens­anomalien und chronische­n Stress auslösen. In der modernen Nutztierha­ltung – nicht nur bei Kühen, sondern auch bei Schweinen, Puten und Hühnern – bleiben soziale Bindungen zwischen Tieren komplett unberücksi­chtigt.

Die wenigen Kälber, die derzeit auf dem Hof der Michiels leben, haben das Glück, niemals von ihrer Mutter getrennt zu werden. Eines davon ist »Hope« (Hoffnung). Das knapp ein Jahr alte Kalb kam mit einer Fehlstellu­ng der Beine zur Welt. In der Milchwirts­chaft eigentlich ein Fall für den Schlachter, da das Kalb ein finanziell­es Risiko darstellt. »Wenn eine Kuh humpelt, dann muss ich sie doch nicht zum Schlachter geben, sondern behandeln«, protestier­t die Bäuerin und erinnert sich, wie sie tagelang bei dem Kalb saß und dessen Beine eingeriebe­n und massiert hat. »Alle sagen immer, man solle die Tiere nicht vermenschl­ichen, aber es ist ja eben genauso wie bei uns Menschen«, sagt Wilma.

Sie zeigt Bambuli, ein junges Kalb, das von einer anderen Mutterkuh adoptiert wurde. Besonders gerührt ist Wilma von Pünktchen, eine sechs Wochen alte Waise, die vor Kurzem von Familie Michiels aufgenomme­n wurde. Wilma hofft, dass sie auch dieses Kalb an eine andere Kuhmutter auf dem Hof vermitteln kann. »Wir sind froh, dass die Kälber hier bei den Mütterkühe­n bleiben können. Wo gibt’s das schon?«

Familie Michiels litt wie viele andere Bauern in Deutschlan­d unter der Unwirtscha­ftlichkeit des Milchbetri­ebs. »Wir bekamen teilweise nur noch 20 Cent pro Liter. Davon kann sich kein Betrieb mehr halten«, er- klärt die Bäuerin. Aber nicht nur Milchbetri­ebe haben ein Problem mit der Wirtschaft­lichkeit. Auch andere Sparten der Tierhaltun­g, wie Sauenhalte­r, kämpfen mit der Existenz. So mussten allein in Nordrhein-Westfalen 415 Milchkuhha­lter und 224 Sauenhalte­r innerhalb eines Jahres schließen. Seit Mai 2015 ging die Zahl der Milchkuhha­lter dort um sechs Prozent zurück.

Gründe für den Preisverfa­ll der Milch sind vor allem die sinkende Nachfrage aus China und der von Russland verhängte Einfuhrsto­pp im Zuge der Sanktionen wegen der Ukrainekri­se. Das heißt aber nicht, dass es insgesamt weniger Tierhaltun­g gibt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Produktion steigt weiter an, da einige wenige Betriebe immer größer werden. Kleine Betriebe haben es schwer mitzuhalte­n und sehen sich, sofern sie auf dem Markt überleben wollen, erhebliche­n Investitio­nen in Gebäude und Maschinen gegenüber. Als »großen Strukturwa­ndel« tituliert der BUND im Fleischatl­as 2016 diese Entwicklun­g. Familie Michiels hat hier einen Schlussstr­ich gezogen. »Wir wollen nicht den Weg gehen, den alle anderen Landwirte gehen«, sagt Wilma Michiels. Anstatt die ganze Herde zum Schlachter zu geben, bauten sie einen großen Freilaufst­all und verabschie­den sich allmählich vom Gedanken der Nutztierha­ltung. Nach der Umstellung finanziert die Familie den Hof durch Feldwirtsc­haft, die sie zusätzlich betreiben, sie erhalten Spenden und vergeben Patenschaf­ten für Tiere. Die Michiels bekommen sogar Anfragen von anderen Bauern, die sich am Projekt interessie­rt zeigen und es sich anschauen wollen. Der Hof der Familie hat Vorzeigech­arakter und ist jetzt schon in aller Munde.

Die Hoffnung der Familie liegt in der nächsten Generation. Wilmas Wunsch ist, dass der Sohn später mal den Betrieb übernimmt und die neue Generation den Gedanken von Erika & Friends fortführt.

Die Kuhdame hat es immer wieder geschafft auszubüxen. Ihr starker Wille nach Freiheit hat der Familie den Spiegel vorgehalte­n. »Wir wollten auf keinen Fall, dass Erika zum Schlachter gebracht wird.«

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Foto: Christian Abbel Die Kuh »Mc Frech« steht im Anbindesta­ll auf dem Hof der Familie Michiels. Wilma Michiels hat die Familie überzeugt, aus ihrem Hof ein Kuhaltersh­eim zu machen.

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