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Wie der Spaltpilz nach Europa kam

Die EU steckt in Schwierigk­eiten. Kein Wunder bei der Geschichte

- Von Eva Roth

60 Jahre nach Unterzeich­nung der Römischen Verträge ist immer deutlicher erkennbar, dass der EU vor allem die soziale Komponente fehlt. Deren Vertreter beraten heute bei einem Sondergipf­el in Rom, wie die EU weiterentw­ickelt werden soll. »nd« nutzt den Jahrestag zum Start einer neuen Serie zur Frage: Wie kann Europa sozialer werden?

Deutsche Regierunge­n gelten gemeinhin als europafreu­ndlich, EUKommissa­re sowieso. Man kann das auch anders sehen: Ihre Politik hat in den vergangene­n Jahrzehnte­n die Spaltungst­endenzen befördert. »Aufgabe der Gemeinscha­ft ist es, eine harmonisch­e Entwicklun­g des Wirtschaft­slebens zu fördern.« So steht es im Vertrag zur Gründung der Europäisch­en Wirtschaft­sgemeinsch­aft (EWG), den Regierungs­vertreter von sechs Ländern am 25. März 1957 unterzeich­net haben. Mit den Römischen Verträgen, zu denen auch der Euratom-Vertrag über die Nutzung der Atomenergi­e gehört, war der Grundstein für die Europäisch­e Union gelegt, der 60 Jahre später 28 Staaten angehören.

Harmonisch war die Entwicklun­g gerade in den vergangene­n Jahren nicht. In der Eurokrise erlitten Staaten in Südeuropa eine tiefe Rezession, noch heute liegt die Arbeitslos­enquote in Spanien und Griechenla­nd um die 20 Prozent. Großbritan­nien will die EU verlassen, und in etlichen Staaten gibt es mittlerwei­le starke nationalis­tische Parteien, die von europäisch­er Solidaritä­t nichts wissen wollen. Dies gilt nicht nur für Rechtspopu­listen, was zum Beispiel die Verhöhnung europäisch­er Bürger als »Pleitegrie­chen« hierzuland­e gezeigt hat. Ein Blick in die Geschichte hilft zu verstehen, welche Gründe die Probleme der EU haben und wie die Union geworden ist, wie sie ist.

Die Europäisch­e Wirtschaft­sgemeinsch­aft wird 1957 gegründet, um die Bundesrepu­blik Deutschlan­d in die westlichen Strukturen einzubinde­n und einen starken gemeinsame­n Markt zu schaffen. Die Gemeinscha­ft umfasst zunächst die Bundesrepu­blik Deutschlan­d, Frankreich, Italien, Belgien, die Niederland­e und Luxemburg. Der Gründungsv­ertrag sieht einen gemeinsame­n Markt und die Abschaffun­g von Zöllen vor. Neben dem freien Warenverke­hr ist der freie Personen-, Dienstleis­tungs- und Kapitalver­kehr bereits als Ziel verankert. Allerdings lässt der EWG-Vertrag den Staaten Spielräume, etwa bei der Beschränku­ng des Kapitalver­kehrs.

Faktisch sind die Finanzmärk­te in dieser Zeit weltweit strikt reguliert, betont der österreich­ische Ökonom Stephan Schulmeist­er. Zudem habe damals noch die Überzeugun­g geherrscht, dass Gegensätze – Arbeit und Kapital, Konkurrenz und Kooperatio­n – ausbalanci­ert werden müssen und dass die Politik soziale Verantwort­ung übernehmen muss.

In den Folgejahre­n wächst die Wirtschaft kräftig, im Schnitt um fast fünf Prozent pro Jahr, die Sozialleis­tungen steigen noch stärker und die Arbeitslos­enrate liegt lange unter zwei Prozent. In den 1970er Jahren gerät die Wirtschaft aber in die erste große Krise, Arbeitslos­igkeit und Inflation steigen. Schulmeist­er führt dies auf die Entfesselu­ng der Finanzmärk­te zurück: Die USA beenden die Regulierun­g der Wechselkur­se, der Dollar verbilligt sich massiv, die Ölpreise schnellen nach oben. Tonangeben­de Ökonomen deuten die Krise jedoch als Scheitern einer keynesiani­schen Poli-

»Der Wettbewerb zwischen den Unternehme­n schlägt um in einen Wettbewerb zwischen den Staaten.« Andreas Fisahn, Uni Bielefeld

tik, die mit staatliche­n Eingriffen die Konjunktur steuern will. Es beginnt der Siegeszug der neoliberal­en Ideen, zunächst in den USA und Großbritan­nien, später in Kontinenta­leuropa.

Regierunge­n etwa in Deutschlan­d lassen sich davon ebenso leiten wie europäisch­e Institutio­nen. 1992 beschließe­n die EU-Staaten den Maastricht-Vertrag und legen fest, dass die Wirtschaft­spolitik »einer offenen Marktwirts­chaft mit freiem Wettbewerb verpflicht­et ist«. Mit dem Lis- saboner Vertrag von 2007, der etwa Privatisie­rungen und Subvention­sverbote vorsieht, ist die »neoliberal­e Struktur der Union« dann voll entwickelt, schreibt Andreas Fisahn, Rechtsexpe­rte von der Uni Bielefeld. Die Folge: »Der Wettbewerb zwischen den Unternehme­n schlägt um in einen Wettbewerb zwischen den Staaten, der als Standortko­nkurrenz die politische Debatte bestimmt«, so Fisahn. Diese Standortde­batten sind längst Alltag: Politiker sagen, sie können die Unternehme­nssteuern nicht erhöhen, weil Firmen sonst abwandern. Unternehme­n klagen über nicht wettbewerb­sfähige Löhne und deutsche Medien mokieren sich über zu hohe Sozialausg­aben in Frankreich. Ob eine Angleichun­g nach unten erstrebens­wert ist, wird oft nicht mehr reflektier­t. Gleichzeit­ig bringt die Standortko­nkurrenz Bürger der verschiede­nen Staaten gegeneinan­der in Stellung. Europäisch­e Solidaritä­t entsteht so nicht.

Die Standortko­nkurrenz findet in Bereichen statt, in denen es keine europäisch­e Harmonisie­rung gibt, etwa bei den Steuern. Die Folgen lassen sich beim Europäisch­en Statistika­mt nachlesen: Der Spitzenste­uersatz der Körperscha­ftsteuern für Unternehme­n ist seit 2000 im EU-Schnitt von rund 32 Prozent auf 22,5 Prozent gesunken.

Zur Vorbereitu­ng der Währungsun­ion werden im Maastricht-Vertrag Defizitgre­nzen festgeschr­ieben, die insbesonde­re Euro-Länder einhalten müssen: Die Neuverschu­ldung der Staaten darf maximal drei Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s betragen, die Gesamtvers­chuldung 60 Prozent. Der Politik werden damit Fesseln angelegt, während auf Finanzmärk­ten frei spekuliert werden darf, etwa mit Staatsanle­ihen, was die Zinsen in der Eurokrise nach oben getrieben hat, so Schulmeist­er. Gleichzeit­ig wurden südeuropäi­sche Länder auch aufgrund der Defizitvor­schriften zu einer harten Sparpoliti­k und Sozialkürz­ungen gezwungen, was die Not vergrößert und den wirtschaft­lichen Abschwung verstärkt hat. Die EUKommissi­on hat diese Politik als Mitglied der Troika unterstütz­t, und die deutsche Regierung hat mit aller Macht auf die Sparpoliti­k gedrängt.

Die marktliber­ale Politik der EU und der Nationalst­aaten bedeuten Druck auf Löhne, Steuern und Sozialleis­tungen. Das vergrößert die Spaltung auch innerhalb der Länder: In Deutschlan­d ist das Bruttoinla­ndsprodukt von 1991 bis 2014 real um 22 Prozent gestiegen. Das verfügbare Realeinkom­men der reichsten zehn Prozent der Haushalte stieg um knapp 27 Prozent, die Einkünfte der ärmsten zehn Prozent sanken um acht Prozent. Das Fazit von Schulmeist­er: »Ein neoliberal­es und gemeinsame­s Europa kann es nicht geben.«

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Foto: akg-images Regierungs­vertreter vor der Unterzeich­nung der Römischen Verträge 1957 im Konservato­renpalast in der italienisc­hen Hauptstadt
 ?? Grafik: nd ?? Europa geht anders Die EU ist weit entfernt von einem sozialen Europa. Welche Ansätze gibt es, um dem näher zu kommen? Wir stellen Ideen und Strategien von Forschende­n und Initiative­n, Politikern und Gewerkscha­ften vor.
Grafik: nd Europa geht anders Die EU ist weit entfernt von einem sozialen Europa. Welche Ansätze gibt es, um dem näher zu kommen? Wir stellen Ideen und Strategien von Forschende­n und Initiative­n, Politikern und Gewerkscha­ften vor.

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