Die Weisheit der Wunden
Schauspiel Leipzig: »Die Maßnahme« von Brecht, »Die Perser« von Aischylos« – ein wuchtiger Doppelschlag
Die Metapher schlägt den höchstmöglichen Ton an. »Als Lenin starb,/ War es, als sagte der Baum zu den Blättern: Ich gehe.« Bertolt Brecht. Der Baum: Natur – also göttlich. Damit erhob Brecht auch Lenin zum Gott. Er war darin der Einzige nicht. So wuchs das schmerztablettöse Bild vom guten Klassiker – und also von der Lüge, der Stalinismus sei Abart, nicht jedoch Kern eines leninisierten Marxismus. Solche Gläubigkeit zu besiegen, musste die kommunistische Bewegung das Tragischste vollbringen: sich selber niederzuschlagen. 1989/90 gelang es dann. Wie man die Luft im Sozialismus rein hielt, das drückte sehr trefflich der Schauspieler Jürgen Holtz aus, in »Sinn und Form«, 1973: »Man kehrt alle Wahrheit unter den Teppich, bis sie zum Himmel stinkt, und dann verurteilt man die Nase zum Tod.«
Erinnerung als Frage: Lauert im glücklich Erledigten vielleicht eine Leerstelle, dahinein erneut Zukunft tappen könnte, wie in eine ewige Falle? Im 100. Jahr nach der Oktoberrevolution ist es daher durchaus sinnfällig, Brechts »Maßnahme« von 1930/31 zu inszenieren. Das Lehrstück vom jungen Genossen, der einige Moskauer Agitatoren ins chinesische Grenzgebiet begleitet, beim Schüren der Revolution aber zu mitfühlend ist – und, mit seinem Einverständnis, von den eigenen Leuten erschossen werden muss. Das Stück als Parteigericht: Recht so, Genossen! Noch das Einverständnis mit dem eigenen Tod als letzter revolutionärer Bewusstseinsakt? Brechts archaische, krass-kalte Poesie hat etwas schrecklich Standrechtliches. Ihr entströmt noch immer der giftige Lockduft des Unerbittlichen: Gegen die Gewalt der Ausbeutenden hilft nur die Gewalt der Ausgebeuteten, und der Einzelne gilt nichts, wenn es ums Große, Ganze, Weltverändernde geht?
In Leipzig inszenierte Enrico Lübbe (Bühne: Etienne Pluss, Kostüme: Bianca Deigner). Inszenierte groß und gewaltig. In Koproduktion mit den Ruhrfestspielen und in Kooperation mit dem Gewandhaus Leipzig. Mit Chören, Musikern aus dem Gewandhausorchester und der Mendelssohn-Orchesterakademie des Gewandhauses zu Leipzig. Der zweistündige Abend koppelt Brecht mit Aischylos: »Die Perser«. Zunächst »Die Maßnahme«. Das Lehrstück baut sich vor einer großen, grabplattengrauen Wand auf. Steinblöcke, gefügt. Als sei dahinter das Leben, eingemauert. Die Inszenierung nimmt sich diese Wand, zieht Steine heraus, schiebt Türen hinein, stellt Spieler auf Quader hoch oben. Die vier Agitatoren: Anna Keil, Thomas Braungardt, Tilo Krügel, Dirk Lange. Rote Jacketts, blaue Hosen, blonde Perücken. Plötzlich chorisch vervielfacht wie die Armee des Mr. Smith aus den »Matrix«-Filmen. Wie Kurzurlauber aus einem Sarkophag. Auftritt Kinder – in gleicher Uniformierung: Nachwuchs-Klone der Partei, die den Kämpfern Pistolen übergeben, wie ein geweihtes Geschenk.
Hinter uns im Rang der vielköpfige Kontrollchor. Masse, Macht, schmetternde Monstrosität. Und: Hanns Eislers Musik! Strenge, klagende Unabweisbarkeit. Es ist, als träfe Kurt Weill auf Carl Orff oder die Kirche aufs Kabarett. Grandioser Chorklang in Sprache und Gesang (Leitung: Marcus Crome). Passion und Partei. Das widerspricht einander und schweißt sich doch ineinander. Von da oben kommt auch immer wieder Applaus. Wie eine Peitsche: Parteitag oder Schauprozess – eine Suche nach den Unterschieden gliche schon einer Beschönigung. Die gelbfahl maskierten Genossen auf der Bühne: Alle Bewegung ist ein gestanzter Choreogra-Fietransport zwi- schen Schattenboxen und Kung Fu. Reißbrettmenschen-Rumor. Zeigefinger wie erhobene Dolche. Architektur der Zeichen. Ein Blutleerstück. Wie eine 3-D-Animation.
Dazu beklemmend einprägsame Schattenspiele (Video: fettFilm): Kulis erklimmen die Wand, stürzen ab ins Bodenlose. Das ist das Bild für jenes Elend, vor dem der junge Genosse weich, das Agitationskommando nur umso härter wird: Opfer von heute sind unvermeidbar bei solch schwerer Arbeit für morgen. Um dies noch für einen ehrlichen, lohnenden Gedanken zu halten, stehen zu viele Opfer vor den Toren unseres Gedächtnisses – wer die Revolution noch verteidigt, zitiert Diskurse; wer sie anklagt, zitiert Tatsachen. Heutige Umsturzfetischisten – lebend auf den schützenden Bizeps dieser Gesellschaft – mögen es bedauern, aber: Die Welt ist ausgespült von revolutionären Reizstoffen der bisher gehabten Art. Brecht selbst kam später, als sein Stück deutlich kontaminiert war von Erfahrung, die beste Idee für diese »Maßnahme«: sie für Aufführungen zu sperren. Die Erben hielten das bis 1997 durch. Schweigen als mutigster Teil der Werkgeschichte.
Jetzt stürzt auf Leipzigs Bühne die große Wand ein. Eine Wolke Staub. Der Herr der Welt, den wir vergeblich aufwirbeln für klare Verhältnisse – er setzt sich und erstickt unser Plustern. Schuld deckt er nicht zu. Kothurnenschritt knallt. Schwarzer leerer Raum nun, durchhellt von Wogen Lichts, in dem der gebückte, scheue Chor sich ausbreitet, um dann mimosenhaft zum Punkt zusammenzuschnurren. Bericht, Klage. Volk zwischen klagender Wucht und tastendem Wabern. »Die Perser«. Geschrieben nach dem Verteidigungssieg der Griechen über die aggressiven Perser des Xerxes. 480 vor Christus. Ein Griechenstück, das vom Schmerz der Besiegten handelt. Selten zu hören von Siegern im Rausch: dass sie die Mäßigung beschwören, um nicht an Selbstbewusstsein zu verwahrlosen.
Hannelore Schubert ist die Chorführerin, eine tief getroffene Erzählerin, die um Fassung ringt; dann selber eine erstarrte Hörende des blutigen Botenberichts. Felix Axel Preißler als dieser Bote durchläuft atemschwer alle Höhen und Tiefen – zwischen peinigender Hatz, das Schlimme redend loszuwerden, und jenem bebenden Flehen, das schreckliche Erzählte möge nicht wahr sein. Er gibt auch den Xerxes: das Gesicht jetzt mit Stricken verschnürt, wie sie vorher den Oberkörper des Boten fesselten. Der Mensch, gefangen im Netz seiner Hybris.
Preißlers Xerxes steht da wie ein brüllender und doch ausbruchsgesperrter Vulkan: Die Lava glühe dem Menschen nach innen – Verzweiflung kann erhellender, rettender sein als die Fortschritts-Euphorie geschlossener Denksysteme. Von Lübbe punktgenau gezeigt in dieser heutigen brodelnden Zeit, in der keiner derer, die durchs Krisen-Panorama stolpern (also wir alle), seine Überforderung gesteht. »Vielleicht legten die Verlautbarer besseres Zeugnis ab, wenn sie eine Weile innestünden der Verwirrung, deren weit ausladende Schwingung bis an sich selbst herankommen ließen, statt unverzüglich sich mit den alten Ordnungskli- schees zu behelfen.« Schrieb Botho Strauß soeben in der »Zeit«.
Hämmernder Text. Pathos und Präsenz. Lübbe bietet ein imposantes, kühl ergreifendes Theater der konzentrierten Askese, in dem der Mensch jäh und in überaus scharfen Umrissen vor sich selbst hingestellt wird – eben auch als tragisch unbelehrbarer Zuarbeiter für ein mechanisches Massendasein. Zeitgenossen: aus der Genossenzeit, aus allen Zeiten. Du siehst in dieser Doppel-Aufführung die Machtgesottenen, und vielleicht denkst du an Trump oder an Assad oder Putin oder Erdoğan, alles notorische napoleonische Mutanten, und du siehst auch die Gleichgeschalteten, die Ideologie-Instrukteure, und du denkst vielleicht auch wieder ans Heute, da linke FreizeitJakobiner noch immer so reflexartig hassen müssen – die Sozialdemokratie, jede Elite, jedes wohlgemute Bürgertum und letztlich auch das Volk, weil es sich nicht in vermeintlich gut und vermeintlich böse, also in links und rechts selektieren lässt. Aber: Die Inszenierung unterlässt jede aktuelle Unmittelbarkeit – Lübbe rückt seine Spieler auf der Bühne an genau jenen Punkt, wo Nähe und Ferne einander aufheben und wo eine ausdrückliche Form dich ergreift, ohne dass sie dich vertraulich anfasst.
Am Ende ist die Bühne übersät mit den Textilien der Spieler. Ein Leichenfeld der Reste. Als sei »Humana« das abschließende Stadium der Humanität. Bei Brecht diese Vernichtung des Einzelnen im Mahlwerk der Mission, im Zurichtungsdogma des Kollektivismus – bei den »Persern« die schier unendliche Litanei-Liste von Namen Gefallener. Menschenleben, du Dreck. Und: du Heiligtum. Heiligtum? Ja, aber stets erst dann, wenn die Trauer spricht. Menschen sind wir immer erst im Glanz der Wunden und Narben.
Wer die Revolution noch verteidigt, zitiert Diskurse; wer sie anklagt, zitiert Tatsachen. »Das Leben ist für die unglücklichen Arbeiter nicht viel mehr als ein Kampf gegen den Tod, ein Leiden, um sich gegen das Leiden stark zu machen.« Sully Prudhomme
Nächste Vorstellungen: 28. April, 6. Mai