Allegorie auf einen radikalen Liberalismus
Pola Oloixarac spielt in ihrem Roman »Kryptozän« eine faszinierende Überwachungs-Dystopie durch
Die 1977 in Buenos Aires geborene Pola Oloixarac gilt derzeit als eine Art Wunderkind der argentinischen Literatur. Der renommierte Schriftsteller Ricardo Piglia bezeichnete ihre Bücher als »großes Ereignis einer neuen argentinischen Erzählkunst«. Vor acht Jahren löste ihr bisher noch nicht ins Deutsche, aber ins Französische, Spanische und Italienische übersetzter Roman »Teorias Salvajes« über linken Machismo im argentinischen Universitätsmilieu einen Skandal aus. Auch ihr zweiter Roman »Kryptozän«, der inzwischen auf Deutsch erschien, begeisterte viele internationale Kritiker, die Oloixarac zuweilen in einem Atemzug mit Thomas Pynchon und Vladimir Nabokov nennen.
Die Autorin, die auch regelmäßig für »New York Times« und BBC schreibt, schießt in Interviews gerne etwas undifferenziert und pauschal gegen die politische Linke. Das sollte Linke aber nicht daran hindern, ih- ren Roman zur Kenntnis zu nehmen. Die Lektüre von »Kryptozän« lohnt auf jeden Fall – schon weil das, was Oloixarac hier vorlegt, handwerklich schlicht brillant ist. In dem literarisch ungemein dichten und spannend erzählten Buch geht es um drei Wissenschaftler, die sich in unterschiedlichen Zeitsträngen mit neuen, für ihre Zeit revolutionären technologischen Möglichkeiten auseinandersetzen. Ihr Ziel ist nicht weniger als die wissenschaftliche Durchdringung des Lebens.
Der Biologe Niklas ist Ende des 19. Jahrhunderts mit einer Forschungsexpedition auf einer abgelegenen Insel unterwegs, wo er eine geheimnisvolle Pflanze untersucht und unglaubliche Entdeckungen macht. Ein zweiter Erzählstrang handelt Mitte der 1980er Jahre. Der Computer-Nerd Cassio, der viel Dead Kennedys hört und zum wilden jungen Star der Hackerszene avanciert, programmiert Viren, wie andere Kunstwerke produzieren. Er schickt sie ins globale Datennetz, wo sie auf zahlreichen Rechnern vor sich hinschlummern und auf ihren Einsatz warten. Die Biologin Piera arbeitet Mitte der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts zusammen mit dem älter gewordenen Cassio, der mittlerweile Karriere gemacht hat, an einem gigantischen lateinamerikanischen Datenbankprojekt. Darin sind die DNA-Proben unzähliger Menschen eingelagert, die digitalisiert mit einem Quantencomputer und entsprechenden Sensoren ein System totaler Überwachung ermöglichen. Gleichzeitig bietet dieses »künstliche Immunsystem«, wie es einmal genannt wird, Schutz vor ter- roristischen biotechnologischen Bedrohungen.
Pola Oloixarac spielt in ihrem Roman eine faszinierende Überwachungs-Dystopie durch. Mit Superrechnern und einer Verknüpfung biologischer Daten mit digitalen Technologien lassen sich »Lebenslinien« erzeugen. Diese Datenbank entsteht in der Fiktion als lateinamerikanische Abgrenzung gegenüber den Datenskandalen der USA und Europas.
Die Grundidee ist ursprünglich, Daten staatlich zu schützen. Aber daraus entsteht ein bürokratisch-technologisches Monster, dessen wissenschaftliche Infrastruktur auf ehemalige deutsche Nazis zurückgeht, die nach 1945 nach Argentinien flohen. Schließlich werden die LebenslinienDaten von Millionen von Menschen zu einer begehrten Ware, die an einem entlegenen Ort in den Anden aufbewahrt wird – bis Oloixaracs Hackerheld Cassio dafür sorgt, dass das staatlich kontrollierte System sich über das ganze Internet verbreitet und jeglicher Kontrolle entzogen ist.
Dahinter steckt für Cassio die Idee radikaler Demokratisierung von Information, die gleichzeitig zu einer Kommodifizierung und möglichen Kommerzialisierung der Daten führt. So lässt sich die Geschichte dieses Kampfes gegen staatliche Bevormundung auch als Allegorie auf einen radikalen Liberalismus lesen. In Pola Oloixaracs Erzählung emanzipieren sich diejenigen, die stark genug dafür sind und ihren individualistischen Prinzipien treu bleiben.
Die 1990er Jahre werden bei Oloixarac gar eine »barocke und euphorische Phase des utopischen Liberalismus«, in der es einigen wenigen Akteuren möglich wird, in die Bereiche der Eliten vorzustoßen. Der Prototyp dieses Gewinners ist ihr smarter, subkulturell geprägter Star aus der Hackerszene – ein ikonographischer Held unseres neoliberalen Zeitalters.
Der subkulturell geprägte Hacker als Held der Zeit
Pola Oloixarac: Kryptozän. Roman. Aus dem argentinischen Spanisch von Timo Berger. Verlag Wagenbach. 192 S., br., 20 €.