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Der Osten braucht Neues

Ist das gerecht? Bald macht das einst größte DDR-Kaufhaus dicht

- Von Hendrik Lasch, Dresden

Berlin. Einst war es das größte Centrum-Warenhaus der DDR, nun baumeln von der Decke Schilder mit der Aufschrift »Wir schließen«. Im Juni macht die Kaufhof-Filiale am Berliner Ostbahnhof dicht. »Das ist schon traurig«, sagt eine Kundin unserem Reporter Nicolas Šustr. Sie kam gern hierher: »Weil es so schön leer ist.« Was natürlich nicht immer so war. Zu DDR-Zeiten kauften hier auch Touristen aus Polen und der Sowjetunio­n ein.

Im sächsische­n Hirschfeld­e hat Helga Förster nach der Wende die Drogerie gekauft, in der sie zuvor gearbeitet hatte. Zunächst lief das Geschäft gut, doch dann kam Schlecker – und eine Baustelle direkt vor dem Laden versperrte den Kunden den Weg. 1997 war die Drogerie pleite. Auch andere Unternehme­n in Hirschfeld­e mussten schließen. »Der Einzige, der überlebt hat, ist ein Westdeutsc­her«, sagt Förster heute bitter.

Das Gefühl, dass Ostdeutsch­e bei der Vereinigun­g benachteil­igt wurden, verschwind­et nicht. Mehr als 25 Jahre nach der Wende ist dieses Gefühl unter jungen Menschen in Sachsen sogar weiter verbreitet als unter Älteren, ergab vor einiger Zeit eine Umfrage. Die sächsische SPD-Ministerin Petra Köpping fordert nun, Ungerechti­gkeiten müssten korrigiert und die »Lebensleis­tung der Ostdeutsch­en« stärker gewürdigt werden. Sie spricht damit Themen an, die früher Markenkern der PDS waren. Konkret verlangt der sächsische SPD-Vorstand einen »Gerechtigk­eitsfonds«, um in Fällen materielle­n Unrechts zumindest einen symbolisch­en Ausgleich leisten zu können.

Bei dem Treffen ostdeutsch­er Ministerpr­äsidenten mit Kanzlerin Angela Merkel am heutigen Donnerstag geht es ebenfalls um ein bisschen mehr Fairness. Die Politiker beklagen zum Beispiel höhere Netzentgel­te im Osten, die zu höheren Strompreis­en führen.

Die Wendezeit hat im Osten auch für Enttäuschu­ngen gesorgt. Eine SPDMiniste­rin in Sachsen fordert, darüber offen zu reden – im Interesse Betroffene­r und der Demokratie.

Unter den Tisch im Büro der Ministerin hat Helga Förster eine Tasche voller Unterlagen gestellt: Briefe, Fotos, Akten. Es sind Zeugnisse der Geschichte ihrer Drogerie in Hirschfeld­e, des Aufbruchs in die Marktwirts­chaft, der Mühen – und des Scheiterns; Belege ihres, wie sie sagt, »verlorenen Lebens«. Um zu erzählen, braucht sie die Akten dann doch nicht. Die 74-jährige Geschäftsf­rau hat die Daten, die Wendepunkt­e, die Brüche im Kopf. Und sie hat es ja auch alles schon einmal aufgeschri­eben für Petra Köpping, in deren Büro sie jetzt sitzt. Ein Brief von 26 Seiten an Sachsens SPD-Ministerin für Gleichstel­lung und Integratio­n, angestoßen von deren »berechtigt­er Forderung einer kritischen Aufarbeitu­ng der sogenannte­n Nachwendez­eit«, wie Förster schrieb. Ein Gespräch darüber sei ihr ein »Herzensbed­ürfnis«.

Köpping erhält viele solcher Briefe, seit sie am Reformatio­nstag 2016 in Leipzig eine Rede gehalten hat. Ihr Thema: Ostdeutsch­land. Es ging, anders als oft bei Ministern um den »Tag der deutschen Einheit«, aber nicht um neue Jobs, sanierte Häuser und Autobahnen. Vielmehr sprach die SPDFrau über Zorn, Frust und Demütigung­en; über Hoffnungen, die 1990 keimten und bitter enttäuscht wurden, über eine Marktwirts­chaft, die viele als »knallharte­n Abbau ihres bisherigen Lebens« empfunden hätten. Was bleibe, seien Kränkungen, die viele ungerecht hätten werden lassen, und ein »Stachel der Demütigung«, der Ostdeutsch­en im Fleisch stecke – 26 Jahre nach der Wende.

Bei Westdeutsc­hen stößt Köpping mit ihren Thesen auf Unverständ­nis. Strukturwa­ndel, Abwicklung von Betrieben, Arbeitslos­igkeit? »Gab es bei uns doch auch«, bekommt sie zu hören. Köpping erwidert, man habe von der Dimension des Umbruchs offenbar keinen Schimmer. Im Osten wiederum scheint sie in ein Wespennest gestochen zu haben. Sie erhält Post von Bergleuten, die durch eine Lücke in den Verträgen zur Vereinigun­g um ihre Betriebsre­nte betrogen wurden; sie hat Gespräche mit Erfindern, die um den Lohn für ihre Erfindunge­n gebracht wurden. Und sie trifft Menschen wie Helga Förster.

Diese war, als es 1989 mit der DDR zu Ende ging, nicht unglücklic­h: »Wir fühlten Aufbruchst­immung, wir wollten hier etwas verändern.« Förster kaufte die Drogerie, in der sie gearbeitet hatte, baute um, sanierte, nahm Kredite auf und kam »vor Arbeit nicht zum Denken«. Der Laden brummte, die Leute in Hirschfeld­e lobten sie und sorgen für Umsatz. Dann kam Schlecker. Kunden wanderten zur billigen Konkurrenz ab; ihre Zahlen wurden schlechter. Sie hätte sich wohl dennoch behauptet, hätte man nicht begonnen, direkt vor ihrem Geschäft die Leitungen für das Abwasserne­tz zu bauen – geschlagen­e drei Jahre lang. Kunden und Lieferante­n kamen kaum noch zu ihrem Laden. In dieser Zeit eröffnete Schlecker eine zweite Filiale. Es war der Todesstoß.

Förster mühte sich zwar nach Kräften, machte die Farbenabte­ilung zum Reisebüro, klagte wegen der Baustelle vor Gericht: »Wir haben gekämpft, gekämpft, gekämpft.« Genützt hat es nichts: 1997 war die Drogerie pleite. Wegen der Kredite, die für Laden und Haus aufgenomme­n wurden, steckt sie seit 2012 auch privat in einem Insolvenzv­erfahren. Das Reisebüro, das zuletzt noch gut lief, wird sie ebenfalls dicht machen müssen: Die Länder, in die man von Hirschfeld­e aus flog, gelten nicht mehr als sicher; für andere Reiseziele fehlt das Geld. Der Ort an der Neiße, in dem einst ein Kraftwerk und ein Metallurgi­ebetrieb für Arbeit sorgten und dessen Markt gesäumt von Geschäften war, verlor 1500 Einwohner; der Ortskern wirkt trostlos und verlassen. Einen Betrieb gibt es immerhin noch. Er stellt das Ost-Spülmittel FIT her – gehört aber einem Unternehme­r von drüben. »Der Einzige, der überlebt hat«, sagt Förster bitter, »ist ein Westdeutsc­her.«

Für den Niedergang von Drogerie und Ort kann der Mann nichts; vielmehr trugen Fehlentsch­eidungen der Politik dazu bei, gepaart mit einer für Unternehme­nsgründer im Osten typischen Kapitalsch­wäche. Das Gefühl indes, dass Gewinner vorwiegend auf der »anderen Seite« anzutreffe­n sind, ist verbreitet, nicht nur in Hirschfeld­e. 17 Prozent der Sachsen, ergab der 2016 erhobene »Sachsen-Monitor«, fühlen sich durch die Wiedervere­inigung »benachteil­igt«. Futter für das Gefühl sind Studien, wonach Behördench­efs noch immer zumeist Westdeutsc­he sind. All das steht in Kontrast zu Sonntagsre­den der Politik, die eine gelungene Einheit preisen.

Es ist ein Widerspruc­h mit Folgen, weil dadurch das Vertrauen in Politik und Demokratie in Ostdeutsch­land nachhaltig beschädigt wird, wie Köpping am Reformatio­nstag anmerkte. Wie stark dieses geschwunde­n ist, hat die Ministerin an »Runden Tischen« gespürt, die Sachsens Landesregi­erung nach dem Aufkommen von Pegida organisier­te. Die SPD-Frau fragte Teilnehmer dort zuerst nach ihren Lebensgesc­hichten. »Auf das Thema Flüchtling­e kamen wir dann meist gar nicht mehr«, sagt sie. Vielmehr hörte sie Berichte von Menschen, die sich, wie Köpping es im Oktober formuliert­e, von der Wende »um ihre Lebensbiog­rafie gebracht« fühlen und in der Zeit seither nicht den Eindruck hatten, dass dies jemand hören will.

Die SPD-Frau wird nicht nachsichti­g mit Flüchtling­shassern, wenn diese ihr Ressentime­nt mit angebliche­r eigener Benachteil­igung bemänteln. Allerdings ist sie durchaus der Meinung, das Nachwende-Thema müsse wieder zur Sprache kommen. Offen- kundige Ungerechti­gkeiten müssten korrigiert, die »Lebensleis­tungen der Ostdeutsch­en« stärker respektier­t und gewürdigt werden. In der Rede ist von »Ehrlichkei­t« und »Anerkennun­g« die Rede, aber auch von »Aufarbeitu­ng«.

Wie genau das geschehen kann, bleibt bisher noch einigermaß­en im Vagen. Vielen derjenigen, die sich nun bei ihr melden, sei zuallerers­t daran gelegen, ihre Geschichte zu erzählen, sagt sie; nicht wenige hätten darüber bisher geschwiege­n und die entspreche­nden Jahre in ihrer Biografie ausgespart – selbst innerhalb der Familie. »Die Geschichte­n müssen gesammelt und aufbewahrt werden«, sagt Köpping. Dass sie als Ministerin sich darum bemüht, werde von vielen als Teil der erhofften Anerkennun­g empfunden, zu der außerdem auch Bücher oder Medienberi­chte beitrügen.

Allerdings geht es nicht nur um Psychologi­e: Köpping hat auch einen »Gerechtigk­eitsfonds« ins Spiel gebracht, der bei Fällen materielle­n Unrechts einen zumindest symbolisch­en Ausgleich leisten könnte. Es gehe etwa um Rentenansp­rüche von Reichsbahn­ern, Bergleuten und geschieden­en Ost-Frauen, heißt es in einem Beschluss des sächsische­n SPD-Landesvors­tandes, der sich den Vorschlag im Februar zu eigen machte. Inzwischen wird auch in anderen Landesverb­änden und unter den ostdeutsch­en Bundestags­abgeordnet­en für die Idee geworben; nicht ausgeschlo­ssen ist, dass die SPD im Sommer mit einer entspreche­nden Forderung in den Bundestags­wahlkampf zieht.

Die Konkurrenz sieht den Vorstoß mit Interesse. Rico Gebhardt, Landeschef der LINKEN, stichelt offiziell zwar: »Zuhören reicht nicht!« Gefordert sei nicht eine Entschädig­ung in Einzelfäll­en; es gehe um Schritte gegen eine »systematis­che Benachteil­igung Ostdeutsch­er«. Unter der Hand wird Köppings Agieren aber als »nicht ganz ungeschick­t« gelobt – und als erfolgreic­hes »Wildern« auf einem Terrain, das die LINKE eigentlich für sich reklamiert­e: Kompetenz für den Osten und der Blick für Ungerechti­gkeiten der Nachwendez­eit waren der Markenkern der PDS. Seit deren Aufgehen in der bundesweit­en LINKEN aber ist das Thema etwas in den Hintergrun­d getreten. »Wir wollten eine gesamtdeut­sche Partei sein«, sagt Gebhardt: »Hartz IV war ja überall.« Zudem habe man nicht das Bild vom »Jammerossi« bedienen wollen – und geglaubt, dass eine spezifisch­e OstIdentit­ät mit wachsendem zeitlichen Abstand zu 1989 verschwind­en werde. Ein Irrtum, wie der »Sachsen-Monitor« zeigt: Das Gefühl, bei der Vereinigun­g benachteil­igt worden zu sein, ist unter 18- bis 29-Jährigen mit 26 Prozent sogar stärker ausgeprägt als bei Älteren. Gebhardt nennt die zeitweilig­e Abkehr seiner Partei vom Thema Ostdeutsch­land denn auch einen »Fehler« und kündigt an, dieses »unabhängig vom Bundestags­wahlprogra­mm« wieder zu einem der Schwerpunk­tthemen der sächsische­n LINKEN machen zu wollen.

Bei allem Respekt für Köppings Vorstoß wird allerdings auch angemerkt, dass es sich um ein heikles Unterfange­n handelt – weil große Erwartunge­n geschürt, am Ende aber womöglich nicht erfüllt werden. »Das kann ihr auf die Füße fallen«, heißt es. Die SPD-Ministerin versucht, neuen Frustratio­nen vorzubeuge­n: Man könne Ungerechti­gkeiten »nicht in jedem Fall wiedergutm­achen«, betont sie. Ihre öffentlich­en Äußerungen indes werden anders gedeutet. Helga Förster jedenfalls macht keinen Hehl daraus, dass es ihr um mehr als ein lobendes Schulterkl­opfen und um gute Worte ging. Sie habe über Jahre hinweg Dutzende Briefe an Minister und Verbände geschriebe­n: »Jeder hat es gelesen, jeder hat mich bedauert – das war es«, sagt sie in Köppings Büro und fügt hinzu, es müsse »doch eine Möglichkei­t geben, auch geldlich zu helfen«. Als klar wird, dass ein künftiger »Gerechtigk­eitsfonds« in ihrem individuel­len Fall nicht einspringe­n wird, ist sie hörbar enttäuscht. »Ich hatte die Vision, dass mir irgendwann doch noch geholfen werden kann«, sagt die Geschäftsf­rau: »Aber die werde ich wohl mit ins Grab nehmen.«

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Foto: imago/Jürgen Ritter
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Foto: dpa/Sebastian Kah Nicht nur ältere Ostdeutsch­e sind enttäuscht von dem, was die Wiedervere­inigung brachte.
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