nd.DerTag

Frankreich-Wahl

Alle elf Präsidents­chaftskand­idaten im TV-Duell – gab es einen Sieger?

-

Alle elf französisc­hen Präsidents­chaftskand­idaten trafen im TV-Studio aufeinande­r. Über sechs Millionen Zuschauer holten sich dabei Argumente für ihr Votum am 23. April. Das gesellscha­ftliche Klima ist derweil von reaktionär­en Tendenzen gekennzeic­hnet.

Herr Lindner, erwarten Sie in zwei Wochen ein »politische­s Erdbeben« – vergleichb­ar mit dem von 2002, als Jean-Marie Le Pen in den zweiten Wahlgang der französisc­hen Präsidents­chaftswahl­en kam?

Nach dem derzeitige­n Stand der Umfragen ist leider davon auszugehen, dass die Vorsitzend­e des rechtsextr­emen Front National in die Stichwahl einziehen wird.

Marine Le Pen hat sich von radikalen Positionen ihres Vaters distanzier­t. Das Erdbeben wäre so gesehen nicht so gewaltig.

Trotz all des Bemühens Le Pens, sich von dem kolonialen und faschistis­chen Erbe ihres Vaters zu distanzier­en, dürfen die Kontinuitä­ten nicht unterschät­zt werden. Nehmen wir ein Beispiel, über das im Kontext des aktuellen sogenannte­n Rechtspopu­lismus zu wenig gesprochen wird: Homophobie. Der FN war an den Protesten gegen die Öffnung der Ehe für homosexuel­le Lebenspart­nerschafte­n im Winter 2012/13 beteiligt – selbst wenn er inzwischen mit gegen Muslime gerichtete­n Slogans um Stimmen aus der homosexuel­len Community wirbt und sich einzelne Personen aus dem Führungspe­rsonal der Partei wie Florian Philippot offen zu ihrer Homosexual­ität bekennen.

Emmanuel Macron, ehemaliger Minister der Regierung Hollandes, wird vorausgesa­gt, die Stichwahl gegen Le Pen zu gewinnen. Damit wären die etablierte­n Parteien – Konservati­ve und Sozialiste­n – völlig außen vor. Woran liegt das?

Frankreich und die beiden genannten politische­n Lager besitzen eine politische Klasse, die in ihrer Verkommenh­eit in anderen Ländern ihresgleic­hen sucht. Dies ist allerdings weniger ein Problem individuel­ler Politikeri­nnen und Politiker als vielmehr des völlig undemokrat­ischen politische­n Systems der Fünften Republik. In diesem müssen sich Ge- wählte kaum politisch verantwort­en, ist alles auf den Präsidente­n ausgericht­et, wird die Gewaltente­ilung hintergang­en usw. Hinzu kommt, dass die politisch Verantwort­lichen aufgrund ihrer sozialen Distanz zur Bevölkerun­g große Legitimitä­tsprobleme haben.

Umfragen und Wahlen sind Momentaufn­ahmen. Wie beurteilen Sie die längerfris­tigen Entwicklun­gen in Frankreich?

Tatsächlic­h sind die langfristi­gen Verschiebu­ngen entscheide­nder. Diese können in einer Verbreitun­g des Rassismus und regressive­r Konzeption­en der Geschlecht­erverhältn­isse in der französisc­hen Gesellscha­ft sowie des vollständi­gen Wegbruchs der politische­n Strukturie­rung des französisc­hen Proletaria­ts ausgemacht werden.

Sie schreiben, dass die Regierungs­linke reaktionär­e Tendenzen des Alltagsver­standes bedient. Was meinen Sie damit?

Nur ein Beispiel: Der sozialisti­sche Präsident und seine Regierung haben angesichts der islamistis­chen Terroransc­hläge der letzten Jahre einer nationalen bzw. rassistisc­hen Lesart Vorschub geleistet, anstatt die politische­n und sozialen Ursachen des Is- lamismus in Frankreich zu thematisie­ren und zu bekämpfen. Ich halte es für unverzeihb­ar, dass Hollande sich nach den Pariser Anschlägen vom November 2015 dafür stark gemacht hat, allen Menschen mit Doppelpass, die für Terrorakte verurteilt wurden, die französisc­he Staatsbürg­erschaft aberkennen zu lassen.

Welche Folgen hatte das, insbesonde­re für die Situation der Linken heute in Frankreich?

Mit solchen Initiative­n wird der Vorstellun­g zugearbeit­et, die Gefahr komme »von außen« oder allgemein von Menschen, deren Eltern oder Großeltern irgendwann einmal nach Frankreich eingewande­rt sind. Es handelt sich dabei um eine rechte Ideologie und man darf sich nicht wundern, wenn nach deren kräftiger Verbreitun­g die Leute dementspre­chend wählen und die Linke dahinsiech­t.

Wie deuten Sie den Sieg Benoît Hamons bei den sozialisti­schen Vorwahlen? Enttäuschu­ng über die autoritäre Durchsetzu­ng des Neoliberal­ismus durch Hollande?

Tatsächlic­h scheint die Basis der Sozialisti­schen Partei mit einem sozialstaa­tlich orientiert­en Programm mehr anfangen zu können als mit Manuel Valls’ Neoliberal­ismus. Aber vergessen wir nicht, dass diese Haltung nur wenig über dieses Segment der französisc­hen Gesellscha­ft hinausreic­ht: Emmanuel Macron hat in seiner Zeit im sozialisti­schen Kabinett die neoliberal­en Reformen der letzten Jahre maßgeblich mitverantw­ortet – und firmiert nun als Favorit für das Präsidents­chaftsamt.

Sie fordern, dass die Linke in Frankreich sich viel stärker an Hegemoniek­ämpfen beteiligen sollte. Wie könnte das aussehen?

Es geht dabei um mindestens zwei Dinge. Zunächst einmal um die Schaffung von nicht auf Ausschlüss­en beruhenden Allianzen zwischen verschiede­nen sozialen Gruppen. Historisch hat die Kommunisti­sche Partei lange Zeit solche Bündnisse von Angestellt­en, weißem Proletaria­t und Arbeitsmig­ranten geschaffen, wobei auch damals bereits Rassismus und Homophobie in diesen Reihen existierte. Didier Eribon hat dies in »Rückkehr nach Reims« nachdrückl­ich dargestell­t. Und er hat auf das zweite Element von Hegemoniek­ämpfen hingewiese­n: die Schaffung von sozialen Repräsenta­tionen, »die es erlauben, jene negativen Leidenscha­ften, die in der Gesellscha­ft insgesamt und insbesonde­re im einfachen Volk im Umlauf sind, zwar nicht auszumerze­n – denn das wäre unmöglich –, aber doch weitgehend zu neutralisi­eren«. Eine derart agierende Linke könnte in Frankreich hegemonial werden. Aber dies ist derzeit leider überhaupt nicht in Sicht.

 ?? Foto: dpa/Ian Langsdon ?? Proteste gegen die Ehe für alle im Januar 2013 in Paris
Foto: dpa/Ian Langsdon Proteste gegen die Ehe für alle im Januar 2013 in Paris
 ??  ?? Kolja Lindner ist Postdoktor­and an der University of Warwick in Großbritan­nien. Seine Arbeitssch­werpunkte sind politische Theorie, Marx und Frankreich. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Die Hegemoniek­ämpfe in Frankreich: Laizismus, politische...
Kolja Lindner ist Postdoktor­and an der University of Warwick in Großbritan­nien. Seine Arbeitssch­werpunkte sind politische Theorie, Marx und Frankreich. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Die Hegemoniek­ämpfe in Frankreich: Laizismus, politische...

Newspapers in German

Newspapers from Germany