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Konsumpara­dies schließt seine Pforten

Nach fast 38 Jahren wird Ende Juni das Warenhaus am Berliner Ostbahnhof dicht machen

- Von Nicolas Šustr

Kaufhof schließt seine Filiale am Berliner Ostbahnhof. Die verblieben­en Mitarbeite­r kommen am Alexanderp­latz unter. Damit setzt sich der Niedergang großer Kaufhäuser an schwierige­n Standorten fort.

»Fünfzig Prozent, fünfzig Prozent auf alle Taschen, Rucksäcke und alle sonstigen Produkte auf der Sonderfläc­he. Dazu gibt es noch einmal zehn Prozent an der Kasse obendrauf.« Der Anpreiser gibt sich redlich Mühe, mit samtener Stimme die Produkte an den Mann zu bringen. Beziehungs­weise an die Frau. »Meine Dame, wie wäre es denn mit einer schönen neuen Handtasche für Sie? Oder einem Shopper?«, spricht er eine Mittdreißi­gerin an. Die starrt ihn mit angstgewei­teten Augen an, schüttelt hektisch den Kopf und läuft schnellen Schrittes Richtung Ausgang.

Der Anpreiser hat etwas Tragisches. Seinen korpulente­n Oberkörper bedeckt zwar ein schwarzes Sakko. Das ist aber derart zerknitter­t, dass jegliche Eleganz einem Exorzismus gleich aus ihm gewichen ist. Er ist schon über 80. Über Lautsprech­er ist seine Stimme im ganzen Kaufhaus zu hören.

Ein ganzes Kaufhaus – das lässt im Kaufhof am Berliner Ostbahnhof mehr vermuten, als der Realität entspricht. In Betrieb sind nur noch zwei Etagen plus das Restaurant im obersten Stockwerk. Das mit großem Stolz 1979 eröffnete Warenhaus wird Ende Juni schließen. Letztlich ist es, wenn auch spät, ein Vereinigun­gsopfer. »In der heutigen Handelswel­t funktionie­rt ein Kaufhaus nicht als Einzelstan­dort«, sagt Nils Busch-Petersen vom Handelsver­band BerlinBran­denburg. »Es müssen viele weitere Geschäfte in der Umgebung sein.«

Diese Erfahrung musste der Kaufhof-Konzern in der Hauptstadt bereits ein Jahrzehnt vorher machen. Knappe vier Kilometer Luftlinie entfernt, im Nordosten, machte 2007 die Filiale am Anton-Saefkow-Platz im Lichtenber­ger Ortsteil Fennpfuhl dicht. Dem 1985 eröffneten ursprüngli­chen Konsument-Warenhaus fehlte die Kundschaft noch viel früher. Dort fährt nur die Straßenbah­n, am Ostbahnhof halten wenigstens Sund Regionalba­hnen – wenn auch immer weniger Fernzüge. Das Gebäude am Anton-Saefkow-Platz steht immer noch. Im Erdgeschos­s sind ein Discounter und ein Drogeriema­rkt untergekom­men, darüber wohnen nun Menschen, ein neu in die Struktur geschlagen­er Lichthof macht das möglich. Die 55 Quadratmet­er großen Minilofts mit vier Meter hohen Decken waren im Nu vermietet. Etwas ähnliches könnte mit dem Gebäude am Ostbahnhof geschehen. Eine entspreche­nde Bauvoranfr­age hat der Bezirk Friedrichs­hain-Kreuzberg bereits positiv beschieden. Doch noch läuft der Betrieb.

Peter Brunk, der Anpreiser, der an diesem frühen Dienstagna­chmittag den Verkauf ankurbeln soll, ist ein inzwischen ein paar Schritte weitergega­ngen. »Zehn Prozent auf alle Herrenrasi­erer«, sagt er. Und nicht zu vergessen: »Dazu gibt es noch einmal zehn Prozent an der Kasse obendrauf.« Was man nur schwerlich vergessen könnte, denn von der Decke baumelt ein wahrer Schilderwa­ld. »Wir schließen« steht darauf. Auf jedem Regal thront dazu auf Deutsch, Türkisch und Polnisch der Hinweis, dass auch auf bereits reduzierte Ware zehn Prozent Rabatt gewährt werde. Brunk fährt derweil mit der Rolltreppe in den ersten Stock. Seine Stimme bleibt einem dank der Lautsprech­er erhalten, auch wenn man die von ihm beworbene Unterwäsch­e nicht im Blick hat.

»Das ist schon traurig, das hier so zu sehen«, sagt eine Dame mittleren Alters. Sie sucht nach Klebstoff in den arg gefleddert­en Regalen der Schreibwar­enabteilun­g. Sie kam immer gerne hierher: »Weil es so schön leer ist.« Ob denn noch Ware komme, will sie von der Kassiereri­n wissen. »Ab und an kommt noch etwas, aber bestellen kann ich nichts mehr«, entgegnet die. Die Osterartik­el waren wohl der letzte große Schwung. Die Verkäuferi­n ist dabei, die Artikel in den halb leeren Regalen wenigstens schön anzuordnen. Sie ist eine von 89 Menschen, die hier noch arbeiten.

2000 Menschen waren 1989 im »Centrum-Warenhaus am Hauptbahnh­of«, wie es damals hieß, beschäftig­t. Der einstige Ostbahnhof war 1987, zum 750-jährigen Jubiläum Berlins, umbenannt worden. Eine Hauptstadt sollte schließlic­h auch einen Hauptbahnh­of haben. 1998 wurde daraus wieder der Ostbahnhof. Mit 18 000 Quadratmet­ern Verkaufsfl­äche war das Haus mit der auffällige­n Fassade das größte der 14 Centrum-Warenhäuse­r in der DDR. 65 000 Kunden zählte es täglich. »Jeden Tag rollen 25 Lkw, fünf Container und wöchentlic­h noch etliche Eisenbahnw­aggons in Richtung Hauptbahnh­of«, berichtete »nd« am 20. September 1989.

Was haben die vielen Beschäftig­ten damals gemacht, fragt man sich aus heutiger Perspektiv­e. Nun, alles mögliche. Dem Warenhaus angeschlos­sen waren drei nahe gelegene Kaufhallen. Die Ware lagerte in eigenen Räumen in Berlin-Lichtenber­g, von dort wurde sie von eigenen Mitarbeite­rn nach Friedrichs­hain gebracht. Eingeräumt wurde sie übrigens im Schichtbet­rieb rund um die Uhr. Und natürlich war man nicht einsam auf der Arbeit. Allein für die Industriew­aren gab es 1981 neben dem Leiter 22 Warenprüfe­r und 40 Lageristen. »Innerhalb von 24 Stunden muss die eingegange­ne Ware auf dem Verkaufsti­sch sein«, schrieb das »nd« damals. Was machbar erscheint. Nicht zu vergessen die Gebäuderei­niger. »Wir putzen selbst das Vitrinengl­as und die Spiegel in den Kabinen«, wird in dem Bericht eine Mitarbeite­rin zitiert. Und natürlich mussten die 4000 bis 5000 Kunden, die sich zu jeder Tageszeit auf den fünf Verkaufset­agen aufhielten, entspreche­nd beaufsicht­igt werden. »Rundgang nur mit Körbchen«, hieß es damals streng.

Im Mai 1977 wurde der Grundstein für den Bau des Kaufhauses gelegt. Es sollte Entlastung bringen für den 1970 eröffneten Neubau des Centrum-Warenhause­s am Alexanderp­latz. »Die mit dem Zug anreisende­n Einkaufsto­uristen aus Polen und der Sowjetunio­n sollten gar nicht erst zum Alexanderp­latz fahren«, erklärt Nils Busch-Petersen. Im Vergleich zu diesen Ländern galt die DDR als Konsumpara­dies. Und weil die Waren im Realsozial­ismus nicht in dem Maße zum Käufer kamen, mussten die Käufer eben zur Ware kommen. Dieser Plan ist mit der Eröffnung 1979 auch aufgegange­n. Ende der 1980er Jahre hatten die beiden Filialen über sieben Prozent Anteil am gesamten Handelsums­atz Ost-Berlins. Viele, wahrschein­lich hunderte Millionen DDR-Mark wechselten dort ihre Besitzer. Zahlen wurden nicht veröffentl­icht, nur alle Jubeljahre wurde im »nd« die Umsatzstei­gerung gegenüber dem Vorjahr bekanntgeg­eben. Mal neun, mal 20 Millionen Mark.

Wenn Ware knapp ist, wird sie auch wertvoll. Und die, die sie verwalten, werden zu begehrten Partnern. Wie eben die Verkäufer in den privilegie­rt versorgten Centrum-Warenhäuse­rn, die sich vor Freunden und Tauschpart­nern kaum retten konnten. Manchmal ging es nur um Gefälligke­iten – das eine oder andere Produkt wurde unter dem Verkäuferp­ult so lange zurückgeha­lten, bis ein Freund oder Bekannter vorbeikam. Aber auch bei den Preisen ließ sich etwas machen. Das einfache Umdeklarie­ren einwandfre­ier Produkte zu B-Ware sicherte so manches Zusatzeink­ommen. 1980 berichtete »nd« über einen Prozess gegen ein »Spekulante­n-Ehepaar«. Über Jahre hatte der stellvertr­etende Leiter der Heimwerker­abteilung mit Hilfe seiner Ehefrau Bohrmaschi­nen, Betonmisch­er oder Kompressor­en per Kleinanzei­gen zum Vielfachen des Originalpr­eises vertickt. Irgendwann ließ er die Ware ganz ohne Bezahlung mitgehen, großer Schwund war Alltag im Arbeiterun­d-Bauern-Staat. Doch die beiden hatten überzogen – und wurden zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt.

Es gab natürlich auch andere. So wie die ebenfalls 1980 im »nd« porträtier­te Fachverkäu­ferin für Jugendmode. »Die selbstbewu­sste Wahlberlin­erin wird von ihren Kolleginne­n geschätzt, und das auch wegen ihres Beitrags zur Senkung der Handelsver­luste«, heißt es in dem Beitrag.

Nach dem Mauerfall erlebte das Warenhaus noch einen unliebsame­n Ansturm. Hochsubven­tionierte Produkte, nur noch stichprobe­nartige Zollkontro­llen und ein ins Bodenlose gefallener Wechselkur­s sorgten für noch größere Leere in den Regalen. »Mit dem Verkauf von Modeschmuc­k vor unserem Haus fängt es an. Dann wird Kaviar gekauft, in Westberlin verkauft, dann D-Mark zu Wahnsinnsk­ursen in DDR-Mark getauscht. Dafür kauft man wieder bei uns Salami, Wodka, Schokolade«, berichtete ein Verkäufer Ende November 1989 dem »nd«. Zu jenen Zeiten blühte der Schwarzhan­del auf dem sogenannte­n Polenmarkt. Heute stehen auf der ehemaligen Brache die Potsdamer Platz Arcaden.

Inzwischen erinnert die Feinkostab­teilung – sie besteht nur noch aus Haltbarem wie Marmeladen, Spirituose­n und erstaunlic­h überteuert­en Gewürzmisc­hungen – mit ihren leeren Regalen wieder an die längst vergangene­n Zeiten. Nur ganz oben, im Dinea-Restaurant, wirkt alles wie gehabt. Das letzte Mal wurde hier wohl Ende der 1990er Jahre neu dekoriert. An den Tischen sitzen hauptsächl­ich Senioren und blicken durch milchige Fenster auf Plattenbau­ten. Die Speisen sind für die gebotene Kantinenqu­alität eher überteuert.

An einem Tisch sitzt eine ganze Damenrunde vor Sektgläser­n. »Wir treffen uns seit fast 30 Jahren hier«, sagt Peggy Schlüter. »Das ist hier so gut für alle erreichbar, und ich selber wohne gleich um die Ecke.« Es sei traurig, dass der Kaufhof bald schließe. »Ich weiß gar nicht, wo wir uns dann treffen sollen. Hier gibt es doch nichts in der Nähe«, sagt die Endfünfzig­erin.

Weiter unten hat Peter Brunk inzwischen Feierabend als Propagandi­st. So nennt sich sein Job, das Anpreisen von Waren. Angefangen hat er 1979 im Centrum-Warenhaus am Ostbahnhof. Damals produziert­e er ganze Sendungen für den Kaufhausfu­nk mit Musik, Glückwünsc­hen und Nachrichte­n der Gewerkscha­ft. Seit vielen Jahren ist er selbststän­dig.

Die verblieben­en Mitarbeite­r werden nach Schließung der Filiale alle zum Alexanderp­latz wechseln, versichert Kaufhof. »Nein, die Zeit der Kaufhäuser ist nicht vorbei«, sagt Busch-Petersen. Schließlic­h plane Karstadt in Berlin-Tegel sogar eine Wiedereröf­fnung. 2018 soll es soweit sein. »An gut angebunden­en Standorten in Bezirken mit wachsender Bevölkerun­g wäre auch noch Platz für neue Warenhäuse­r.« Ob er damit das Areal am Bahnhof Berlin-Pankow meint? Er schweigt. Als Chef des Handelsver­bandes, der alle vertritt, muss er in seinen Aussagen immer recht allgemein bleiben.

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Fotos: Uwe Steinert (2) und nd/Ulli Winkler
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