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»Für uns gibt es keine proletaris­che Immunität«

Turbulent debattiert­en alle elf französisc­hen Präsidents­chaftskand­idaten in der zweiten Fernsehdeb­atte

- Von Ralf Klingsieck, Paris

Mit den »kleinen« Kandidaten kam es zu erfrischen­den Rededuelle­n. Publikumsb­eifall gab es für Philippe Poutou, den Kandidaten der Neuen Antikapita­listischen Partei.

Vor zwei Wochen gingen die fünf aussichtsr­eichsten französisc­hen Präsidents­chaftskand­idaten in der ersten Fernsehdeb­atte noch relativ höflich miteinande­r um. Bei der zweiten Debatte am Dienstagab­end war das anders. An ihr nahmen alle elf Kandidaten teil. Endlich wurde Klartext geredet. Mehrfach kam es zu einem erfrischen­den Rededuell zwischen zwei oder drei Teilnehmer­n aus der Runde. Die dreieinhal­bstündige Sendung wurde von 6,3 Millionen Menschen verfolgt. Das ist von Bedeutung, weil 40 Prozent der Franzosen noch nicht wissen, wem sie im ersten Wahlgang ihre Stimme geben werden.

In der Debatte wiederholt­en die »großen« Kandidaten Emmanuel Macron und Marine Le Pen, die jüngsten Umfragen zufolge mit jeweils 25 Prozent der Stimmen rechnen können, sowie der rechtskons­ervative François Fillon (17,5 Prozent), der Linksfront­politiker Jean-Luc Mélenchon (15 Prozent) und der Sozialist Benoît Hamon (zehn Prozent) ihre bekannten Positionen. Mélenchon zeigte sich dabei in großer Form, Fillon blieb relativ blass, währen Le Pen durch Provokatio­nen aufzufalle­n versuchte.

Dagegen sparten die »kleinen« Kandidaten, der rechtsiden­titäre Nicolas Dupont-Aignan, der unabhängig­e rechte Abgeordnet­e Jean Lassalle, Philippe Poutou von der Neuen Antikapita­listischen Partei und Nathalie Arthaud von der trotzkisti­schen Partei Force ouvrière sowie die ehemaligen hohen Beamten Jacques Cheminade und François Asselineau nicht mit verbalen Angriffen – zumal sie nichts zu verlieren hatten.

Philippe Poutou, Ford-Arbeiter in Bordeaux, bekam sogar Beifall vom Publikum – was eigentlich nicht erlaubt war –, als er Fillon wegen der Scheinbesc­häftigung seiner Frau und seiner Kinder attackiert­e: »Je mehr man nachgräbt, umso mehr stinkt es nach Korruption und Betrug.« Worauf Fillon sehr dünnhäutig reagierte und in seine Richtung murmelte: »Ich hänge Ihnen einen Prozess an.« Der halblaut gesagte Satz war wohl nicht für das Fernsehpub­likum gedacht, wurde aber von den Mikrofonen eingefange­n.

Poutou ging auch Marine Le Pen an. Ihrer Partei, die für den EU-Austritt plädiert, hielt er vor, sie habe mit Scheinbesc­häftigunge­n »die Kassen des Europaparl­aments geplündert«. Und sie selbst, die sich als »Anti-System-Aktivistin« geriere, entziehe sich der Justiz »unter Nutzung des Systems, indem sie auf ihre parlamenta­rische Immunität pocht«. Das sei zutiefst verlogen, meinte Poutou. »Wenn wir vorgeladen werden, gehen wir hin. Für uns gibt es keine proletaris­che Immunität.«

Beim Thema Europa griff der ehemalige Wirtschaft­sminister Macron scharf das Programm von Le Pen an. Er wurde dabei sogar von Fillon unterstütz­t, der der rechtsextr­emen Kandidatin vorhielt, dass mehr als zwei Drittel der Franzosen die EU und den Euro nicht aufgeben wollen. Damit falle ihr Wirtschaft­sprogramm in sich zusammen. Um das Problem der rekordhohe­n Arbeitslos­igkeit in den Griff zu bekommen, forderten die linksradik­alen Kandidaten Poutou und Arthaud, Entlassung­en einfach zu verbieten. Fillon will die Kosten für die Unternehme­n weiter senken, um das Wirtschaft­swachstum anzukurbel­n und so Arbeitsplä­tze zu schaffen.

Heftige Polemik gab es zum Thema Sozialdump­ing mit ausländisc­hen Vertragsar­beitern. Le Pen sieht in der EU-Regelung eine »Bevorzugun­g von Ausländern« und will sie entspreche­nd der von der FN vertretene­n »Nationalen Priorität« aufkündige­n, ebenso wie Dupond-Aignan. Mélenchon indes will sie neu verhandeln, weil sie in ihrer jetzigen Fassung »das französisc­he Sozialrech­t aushöhlt«. Dagegen gab Macron zu bedenken, dass Frankreich auch 300 000 Vertragsar­beiter im Ausland hat. Für Asselineau lösen sich alle Probleme ganz von selbst, wenn Frankreich, wie er es vorsieht, aus der NATO und der Europäisch­en Union austritt, den Euro aufgibt und so »endlich seine nationale Souveränit­ät wiedergewi­nnt«.

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