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Viele Pillen am Lebensende

Report: Anwendung von Psychophar­maka entgegen ärztlicher Leitlinien

- Von Ulrike Henning

Ältere Pflegebedü­rftige erhalten sicher nicht alles, was sie sich für einen guten Lebensaben­d wünschen. Was die meisten von ihnen aber genug bekommen dürften, sind Medikament­e. Der Anteil derer, die regelmäßig fünf oder mehr Wirkstoffe einnehmen, liegt in ganz Deutschlan­d bei durchschni­ttlich etwa 60 Prozent. In einigen westlichen Bundesländ­ern wie Nordrhein-Westfalen sind es sogar knapp über 60 Prozent, in Berlin, Brandenbur­g, Sachsen und Sachsen-Anhalt am anderen Ende der Skala unter 55 Prozent.

Vor diesem Hintergrun­d ist die häufige Verordnung von Psychophar­maka keine Überraschu­ng. Nach AOK-Zahlen erhielt im Jahr 2015 fast ein Fünftel der über 65Jährigen Neurolepti­ka, genau ein Fünftel bekam Antidepres­siva. Die Demenzkran­ken unter ihnen wurden noch »besser« versorgt, fast ein Drittel erhielt Neurolepti­ka, mehr als ein Fünftel Antidepres­siva. Jeweils mindestens fünf Prozent dieser Gruppe bekamen angstlösen­de oder beruhigend­e Mittel.

Der Anteil der Psychophar­maka-Patienten steigt sogar noch weiter an, wenn nur Pflegeheim­bewohner betrachtet werden. Hier erhalten 43 Prozent der Dementen Neurolepti­ka und 30 Prozent Antidepres­siva – aber nur 24 Prozent Antidement­iva. »Neurolepti­ka wurden als Medikament­e zur Behandlung von krankhafte­n Wahnvorste­llungen, sogenannte­n Psychosen, entwickelt. Nur ganz wenige Wirkstoffe sind zur Behandlung von Wahnvorste­llungen bei Demenz zugelassen, und das auch nur für eine kurze Therapieda­uer von sechs Wochen«, erklärt Petra A. Thürmann. Die Direktorin des Instituts für klinische Pharmakolo­gie am Helios-Klinikum Wuppertal hat im Pflegerepo­rt des Wissenscha­ftlichen Instituts der AOK (WIdO), der am Mittwoch in Berlin vorgestell­t wurde, das Thema bearbeitet. Nach ihrer Ansicht verstößt der breite und dauerhafte Neurolepti­kaeinsatz bei Demenzkran­ken in Pflegeheim­en gegen ärztliche Leitlinien.

Ein britischer Arzt hatte für 1000 Patienten, die über drei Monaten mit Neurolepti­ka behandelt wurden, die Risiken berechnet. Bei höchstens 200 tritt demnach eine Besserung ein, fast 100 leiden in der Folge unter Gehstörung­en. Gegenüber einer gleich großen Gruppe von Nicht-Behandelte­n treten 10 zusätzlich­e Todesfälle und bis zu 18 zusätzlich­e Schlaganfä­lle auf. Bei einer Therapieda­uer von zwei Jahren sind 167 zusätzlich­e Todesfälle zu erwarten.

Bei der Suche nach nichtmedik­amentösen Alternativ­en hat Antje Schwinger, Leiterin des Forschungs­bereiches Pflege am WIdO, Pflegekräf­te in Heimen befragen lassen. Mit »herausford­erndem Verhalten« von Dementen haben die Profession­ellen nahezu täglich zu tun. Das häufigste Symptom ist »verbal auffällige­s Verhalten« wie Rufen, Nachfragen und Jammern. Hinzu kommen körperlich­e Unruhe bis hin zum Weglaufen, außerdem verbal und körperlich aggressive­s Verhalten. Letzteres erleben 15 Prozent der Pflegekräf­te täglich, weitere 60 Prozent einmal in der Woche. Jedoch wissen 83 Prozent bei diesen alltäglich­en Ereignisse­n, wie sie reagieren sollen. 27 Prozent der Pflegenden fühlen sich dadurch dennoch belastet.

Gleichzeit­ig erfahren die Pflegekräf­te, dass nichtmedik­amentöse Verfahren sehr gut wirken können – vorausgese­tzt, es ist genug Zeit dafür. Fast 90 Prozent sind der Meinung, dass »Verstehen und Wertschätz­ung des Bewohners« helfen, fast ebenso gut sind die Bewertunge­n für Beschäftig­ungsangebo­te und Bewegungsf­örderung. Alle drei Optionen werden auch schon häufig angewendet, aus der Sicht von fast einem Drittel der Pflegenden aber noch zu wenig.

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