Vom Fußballplatz ins KZ
Das Leipziger Theater der Jungen Welt erinnert mit dem Stück »Juller« an den jüdischen Nationalspieler Julius Hirsch
Nach der Uraufführung soll das Stück über den 1944 in Auschwitz ermordeten Fußballer im Herbst auf Deutschlandtournee gehen.
Auf der großen Bühne des Theaters der Jungen Welt (TdJW) in Leipzig sind Tribünenteile mit vereinzelten roten und schwarzen Sitzschalen aufgebaut, wie in einem Fußballstadion. Als die Beleuchter die Kulisse in warmes Licht tauchen, werden auf der Stadionmauer dahinter Einschusslöcher sichtbar. Auf dem Mauerrand sind altertümliche Lautsprecher in Tütenform angebracht, wie man sie von alten Fußballstadien kennt – und wie sie auch in Konzentrationslagern angebracht waren, wo Grammophonmusik Schreie der Insassen und Schüsse übertönen sollten.
Das Bühnenbild bietet die Kulisse für den schweren Spagat zwischen Fußballplatz und KZ, den die Leipziger Theatermacher um Intendant und Regisseur Jürgen Zielinski in dem Stück »Juller« versuchen. Protagonist der Inszenierung ist der deutsch-jüdische Nationalspieler Julius Hirsch.
Hirsch, den sie nur »Juller« nannten, war zu Beginn des Jahrhunderts einer der ersten deutschen Fußballstars, Nationalspieler und mehrfacher Deutscher Meister. 1943 wurde er nach Auschwitz verschleppt, wo sich seine Spur verlor. Anlässlich von Hirschs 125. Geburtstag bringt das älteste Kinder- und Jugendtheater hierzulande die Biografie nun erstmals auf die Theaterbühne. An diesem Sonnabend wird das Stück uraufgeführt.
In vielen Szenen hält sich der renommierte Autor Jörg Menke-Peitzmeyer, der das Stück im Auftrag des TdJW geschrieben hat, an die bewegende Biografie von Julius Hirsch, der nicht nur auf dem Fußballplatz, sondern auch im Ersten Weltkrieg für sein Land kämpfte. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten musste er aus seinem langjährigen Klub Karlsruher FV austreten; der Zutritt ins Stadion, in dem er einst Erfolge feierte, wurde ihm verweigert und die Arbeitsgrundlage genommen. Mit einem Sprung aus dem fahrenden Zug versuchte sich Hirsch das Leben zu nehmen, ehe es ihm schließlich durch die Deportation nach Auschwitz genommen wurde.
Aktuelle Relevanz erhält das Stück in mehreren fiktiven Szenen, die im Paradies spielen, wenn Menke-Peitzmeyer »Juller« gemeinsam mit seinen einstigen Sturmkameraden Fritz Förderer und Gottfried Fuchs ironisch fachsimpeln, bewerten, lästern lässt, wie Fußballveteranen, die sich bei einem Alte-Herren-Spiel wiedertreffen und über damals und heute sprechen. Das ist durchaus auch amüsant.
Dann wird Philipp Lahms Aussage, Politik irritiere die Spieler nur und habe im Stadion nichts zu suchen, ebenso ironisch kritisiert wie der DFB, der seine jüdische Historie »lange totgeschwiegen« habe. Die Tatsache, dass Fuchs und Hirsch bis heute die einzigen beiden Juden waren, die je in der deutschen Nationalmannschaft gespielt haben, wird im Stück sarkastisch kommentiert: »Man könnte fast meinen, der DFB wäre eine einzige Ansammlung von Antisemiten.« Regisseur Zielinski fragte beim öffentlichen Probenauftakt: »Ist Lachen in so einem Stück überhaupt zulässig?” Und gab gleich selbst die Antwort: »Es soll gelacht werden, und zwar ein Lachen, das einem im Halse stecken bleibt.«
Es ist vor allem »die ironische Rückschau der drei Mannschaftskameraden von oben«, die Julius Hirschs Enkel Andreas, der bei der Entstehung des Stückes wichtigster Ansprechpartner war, an der Umset- zung des Stückes gefällt. »Die raue, freundschaftlich-schnoddrige Sprache stammt aus der sprichwörtlichen Kabine und wird nicht nur die Jugend zuhören lassen. Bei aller Ironie wird nichts beschönigt und die klare Haltung ist stets spürbar, um in der Gegenwart eindeutig Stellung gegen Rassismus zu beziehen«, lobt Andreas Hirsch. Der Autor habe »mit großem Gespür die Brüche in Jullers Leben herausgearbeitet«.
Welch große aktuelle Bedeutung das Thema gerade in diesen Tagen auch politisch hat – nicht nur im Sport, sondern in der gesamten Gesellschaft –, formulierte unter anderem Schirmherrin Claudia Roth: »In einer Zeit, in der die Welt aus den Fugen zu geraten scheint, sind es Theaterstücke wie ›Juller‹, die uns Orientierung geben können und mahnen für die Zukunft.«
Unterstützt wird das Theaterprojekt unter anderem von der DFB-Kulturstiftung, die seit zwölf Jahren den Julius-Hirsch-Preis für engagierte Projekte gegen Diskriminierung und für Integrationsarbeit im Fußball vergibt, und die eine Inszenierung vor drei Jahren anregte. Auf einer Theaterbühne, so sagte Olliver Tietz von der DFB-Kulturstiftung, könne das Eintreten gegen Rassismus und Diskriminierung noch einmal direkter und emotionaler vermittelt werden, als in direkten Fußballkontexten. Dramaturg Jörn Kalbitz sagt, dass das Theater bereits mit anderen Stoffen die Erfahrung gemacht habe, »dass der Träger Fußball hervorragend zur gesellschaftlichen und politischen Aufklärung taugt«.
Und auch für Schauspieler Philipp Oehme, der einst selbst als Torhüter höherklassig kickte und nun den »Juller« gibt, steht es im Vordergrund, das Theaterpublikum ab 14 Jahren emotional zu erreichen. Das Stück berühre neben den großen politischen und gesellschaftlichen Fragen auch Themen wie »Kameradschaft und den Verlust von Kameradschaft«. Gerade auch (junge) Fußballfans, für die der Sport in erster Linie Leidenschaft ist und nicht gesellschaftliches Brennglas, sollen sich in dem Stück wiederfinden. Nicht nur in Leipzig, sondern auch an zehn bis zwölf weiteren Bundesligastädten.
Im Herbst wird die Leipziger Inszenierung auf Tournee gehen und in Stadien, Turnhallen, Schulen und Museen aufgeführt werden. Start der Gastspielreise soll im Oktober im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund sein. Mit einer Aktions-Sporttasche und einer Buchveröffentlichung zum Stück begleitet das Theater diese besondere Aufführung – den schweren Spagat zwischen Fußballplatz und KZ – auch pädagogisch und journalistisch.
»In einer Zeit, in der die Welt aus den Fugen zu geraten scheint, sind es Theaterstücke wie ›Juller‹, die uns Orientierung geben können und mahnen für die Zukunft.« Claudia Roth, Schirmherrin der Leipziger Inszenierung