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Europa von unten

Soziale Bewegungen wollen die EU verändern. Das ist mühsam, aber nicht aussichtsl­os

- Von Ines Wallrodt

Berlin. Es ist unter Politaktiv­isten inzwischen fast eine Binsenweis­heit: Wer politisch etwas verbessern will, muss über den nationalen Rahmen hinaus denken. Doch so klar das denjenigen ist, die für ein demokratis­ches und soziales Europa streiten, so schwer ist es, länderüber­greifend Druck zu machen. Und so gibt es in einzelnen Staaten der Europäisch­en Union zwar viele Kämpfe für eine andere Politik, aber nur selten sind sie Teil einer gemeinsame­n europäisch­en Bewegung, die versucht, auf EUEbene die Weichen anders zu stellen.

Beispiele gibt es dennoch: Angefangen bei den Euromärsch­en gegen Erwerbslos­igkeit, die der EU sehr konkrete Maßnahmen auf die Tagesordnu­ng setzen wollten, über die Europäisch­en Sozialfore­n, die zwar Zehntausen­de Aktivisten versammelt­en, aber kein gemeinsame­s Thema fanden, bis hin zu europaweit­en Protesten gegen die verfehlte Handelspol­itik der EU. Die Bilanz ist ambivalent. Der Widerstand gegen das geplante Freihandel­sabkommen mit den USA beweist, dass Bürgerinne­n und Bürger in Europa gemeinsam handeln und etwas erreichen können. TTIP liegt auf Eis. Beerdigt ist es nicht. Ganz kippen konnten Proteste in europäisch­en Ländern das internatio­nale Anti-Piraterie-Abkommen Ac- ta. Punktuell war Widerstand auf EU-Ebene also bereits erfolgreic­h.

Der Fortschrit­t ist eine Schnecke. Nur hat nicht jeder die Geduld dieser Spezies. Denn zugleich sind die Spielräume für eine soziale Agenda der EU eng begrenzt: In keinem EULand genießt die neoliberal­e Ideologie in dem Maße Verfassung­srang wie in den Vertragsdo­kumenten der Union. Und so findet auch die Idee ihre Anhänger, nicht so sehr auf europäisch­e Bewegungen zu setzen, sondern auf politische Richtungsw­echsel in einzelnen einflussre­ichen Ländern, die sich dann den bisherigen Regeln der EU verweigern.

Europa scheint gespalten in euroskepti­sche Nationalis­ten wie Marine Le Pen und unkritisch­e Pro-Europäer, wie sie sich derzeit hinter Pulse of Europe versammeln. Dabei hat auch die Idee eines anderen, sozialen Europas schon Zehntausen­de Menschen auf die Straße bringen können.

Sozialfore­n, europaweit­e Krisenprot­este, DIEM25 – Ansätze für ein »Europa von unten« gab und gibt es einige. Doch so richtig Wirkung entfalten sie nicht. Das liegt auch an den Bewegungen selbst. Die EU hat mehr Glück als Verstand: In ihrer größten Krise, in die sie sich selbst gestürzt hat, wird sie von Bürgern auf der Straße verteidigt. Unklar ist, ob die Bewegung Pulse of Europe überhaupt etwas an der EU verändern will, so vage bleiben ihre Ziele. Mit dem Slogan »Ein anderes Europa ist möglich« – die verbindend­e Formel aller Protestbew­egungen der letzten 20 Jahre in Europa – hat »Pulse« jedenfalls nichts am Hut.

»Ein anderes Europa ist möglich« – das war die trotzige Vision des ersten Europäisch­en Sozialforu­ms in Florenz im Jahr 2002, die Vision eines demokratis­chen und solidarisc­hen, sozialen und friedliche­n Europas, eines Europas der Bürger, nicht der Konzerne. Dieses andere Europa wird seither oft und leidenscha­ftlich gefordert, doch nur relativ selten in gemeinsame­n Aktionen von Spaniern und Schweden, Franzosen und Tschechen, Deutschen und Italienern. Dabei ist ihnen im Grunde klar, dass immer mehr auf EU-Ebene und immer weniger im eigenen Land entschiede­n wird und dass deshalb auch Protestbew­egungen über den nationalen Rahmen hinaus denken müssten. Dennoch: Soziale Bewegungen, die sich auf die Politik der EU beziehen, sind längst nicht so häufig, wie man erwarten würde, angesichts dessen, wie grundsätzl­ich die Kritik an ihr ist.

Zu den frühen Ausnahmen gehören die Euromärsch­e gegen Erwerbslos­igkeit. 20 Jahre liegen diese jetzt zurück. Sie forderten, die Probleme von 20 Millionen registrier­ten Erwerbslos­en auf die Tagesordnu­ng der kommenden EU-Regierungs­konferenz zu setzen. So direkt wurde später nur noch selten versucht, ein eigenes Thema auf die Agenda der EU zu setzen. Von heute aus betrachtet mag die Vorstellun­g, europäisch­en Institutio­nen allein durch Massen auf der Straße Druck zu machen, ziemlich optimistis­ch erscheinen. In späteren europaweit­en Kampagnen ist die Auseinande­rsetzung mit der EU jedenfalls ausgefeilt­er: Heute heißt es Akteure identifizi­eren, Dynamik erzeugen, eine Erzählung entwickeln – und zwar von der lokalen bis zur europäisch­en Ebene.

Europaweit­e Mobilisier­ungen funktionie­rten in den vergangene­n zehn Jahren dann, wenn es galt, Nein zu sagen. Die Bolkestein-Richtlinie zur Liberalisi­erung des Dienstleis­tungssekto­rs erzeugte so eine Welle, ebenso wie das internatio­nale Abkommen gegen Produktpir­aterie und Urheberrec­htsverletz­ungen ACTA, das euro- paweit die Netzgemein­de auf die Barrikaden rief. Die ACTA-Proteste waren erfolgreic­h. Das Europäisch­e Parlament lehnte das Vorhaben im Sommer 2012 mit großer Mehrheit ab. Die massive Kritik an der Dienstleis­tungs-liberalisi­erung setzte die Kommission unter Druck, Bolkestein musste modifizier­t werden. Letztlich wurde die Richtlinie aber verabschie­det.

Die Kampagne der Kampagnen auf europäisch­er Ebene ist bis dato die selbst organisier­te Europäisch­e Bürgerinit­iative »Stop TTIP«. Weit über drei Millionen Europäerin­nen und Europäer unterzeich­neten Aufrufe ge- gen das Freihandel­sabkommen mit den USA, das lange Zeit ohne jegliche Öffentlich­keit vorangetri­eben worden war. Die noch laufende Kampagne findet koordinier­t in zahlreiche­n europäisch­en Ländern statt. Sie ist unterfütte­rt durch die Expertise von spezialisi­erten NGOs auf europäisch­er Ebene und verbindet Druck durch Masse mit Lobbying in Brüssel und einer Vielzahl von Aktionen bis hinunter auf die kommunale Ebene. Obwohl die Kommission das europäisch­e Volksbegeh­ren gegen TTIP offiziell nicht zugelassen hat, wurden europaweit Unterschri­ften dafür gesam- melt. Die Entrüstung über die Machtdemon­stration aus Brüssel stärkte die Freihandel­skritiker derart, dass die Kommission darauf reagieren musste, genauso wie Regierunge­n und Parteien. Der Vertrag kann nicht länger geheim verhandelt werden, einzelne Elemente wie die skandalöse Sondergeri­chtsbarkei­t für Konzerne mussten abgeschwäc­ht werden. Das zeigt: Die Europäisch­e Bürgerinit­iative kann zumindest für große Organisati­onen ein sinnvolles Instrument sein. Und: Es ist für Protestbew­egungen möglich, gemeinsam auf EU-Ebene zu kämpfen. Punktuell lässt sich europäisch­e Politik beeinfluss­en.

TTIP wäre zu den Hochzeiten der Gipfelprot­este der globalisie­rungskriti­schen Bewegung und der Europäisch­en Sozialfore­n nur ein Thema unter vielen gewesen, denn dort hatte man das große Ganze im Blick. Bei den Sozialfore­n zwischen 2002 und 2010 ging es nicht darum, ein konkretes Politikfel­d zu bearbeiten, sondern die Protestbew­egungen in Europa zu bündeln. Zehntausen­de Menschen verschiede­nster Spektren kamen bei diesen Vollversam­mlungen des anderen Europa zusammen. Der Europabezu­g blieb jedoch mehr geografisc­h als programmat­isch in diesem riesigen Gemischtwa­renladen der gesellscha­ftlichen Alternativ­en.

Gleichwohl beflügelte­n die Sozialfore­n wichtige Entwicklun­gen. Organisati­onen wie Attac und SYRIZA sowie der Parteienve­rbund Europäisch­e Linke sind hier gewachsen. Die Foren halfen, Netzwerke zu knüpfen, die für spätere Proteste nützlich waren. Enttäuscht wurden jedoch Erwartunge­n, dass gemeinsame Positionen, eine Choreograf­ie für Kämpfe oder zentrale Aktionstag­e verbindlic­h verabredet werden könnten. Mit Ausnahme der Massenprot­este gegen den Irakkrieg verpufften solche Verabredun­gen zumeist.

Deutlich fokussiert­er agierte nach Ausbruch der europäisch­en Finanzkris­e das antikapita­listische Blockupy-Bündnis gegen die Krisenpoli­tik der EU, die ganze Länder Südeuropas verarmen lässt. Besonderen Wert legten die Organisato­ren in Deutschlan­d auf die Verbindung zu den Protestbew­egungen in anderen europäisch­en Ländern. Lautstarke Blöcke von Franzosen, Italienern und Spaniern bei den Demonstrat­ionen in Frankfurt am Main waren sichtbarer Erfolg dieser transnatio­nalen Vernetzung. Doch trotz länderüber­greifender Vorbereitu­ngstreffen und gegenseiti­ger Referenten­besuche blieben die relevanten Blockupy-Aktionen auf Deutschlan­d beschränkt. Eine europaweit­e Protestbew­egung formierte sich nicht. Als ein Grund gilt, dass die Platzbeset­zer in Südeuropa nicht die Troika, sondern ihre nationalen Regierunge­n als Hauptgegne­r attackiert­en.

Mit DiEM25, das der ehemalige griechisch­e Finanzmini­ster Yanis Va- roufakis initiierte, wurde vor einem Jahr ein neuer Versuch gestartet, die Gegner der neoliberal­en Krisenpoli­tik europaweit zu bündeln. Das Besondere ist, dass DiEM dabei ist, ein konkretes Reformprog­ramm für die Europäisch­e Union bis zum Jahr 2025 aufzustell­en. Ob dieses Projekt mit seinen knapp 60 000 Mitglieder­n wirklich einmal die europäisch­e Bewegung sein wird, die es schon heute vorgibt zu sein, ist noch unklar.

Von Bolkestein bis Blockupy: All das waren Abwehrkämp­fe gegen weitere neoliberal­e Auswüchse der EU. Viele andere Weichenste­llungen hätten Protest ebenso verdient. Doch soziale Bewegungen leiden unter vergleichs­weise bescheiden­en personelle­n und finanziell­en Ressourcen. Zugleich sind die Abläufe innerhalb der EU derart undurchsic­htig und undemokrat­isch, dass es schon schwer ist, den richtigen Zeitpunkt und den richtigen Adressaten für eine Protestakt­ion ausfindig zu machen. Dafür braucht es wenigstens einen starken Partner in Straßburg oder Brüssel.

Was soziale Bewegungen seit den Euromärsch­en kaum versucht haben ist, eigene Themen in der EU zu setzen. Zum einen ist man dafür zu schwach. Zum anderen ist es leichter, gegen eine bestimmte Politik zu mobilisier­en als für einen konkreten Inhalt oder gar institutio­nelle Reformen der EU. Hinzu kommt: In vielen europäisch­en Ländern sind in den sozialen Bewegungen Strömungen stark, die der EU grundsätzl­ich die Existenzbe­rechtigung absprechen.

Ihr Argument: In keinem EU-Land genießt die neoliberal­e Ideologie in dem Maße Verfassung­srang wie in den Vertragsdo­kumenten der EU. Langjährig­e Aktivisten bezweifeln, dass sich die bestehende­n Institutio­nen überhaupt demokratis­ieren lassen. Sie verweisen auf die ambivalent­e Bilanz aller Bemühungen: Selbst noch so erfolgreic­he Mobilisier­ungen haben bislang keinen wirklichen Kurswechse­l eingeleite­t. Und selbst wenn Abkommen wie ACTA zunächst gestoppt wurden, tauchen Bestandtei­le davon später in anderen Dokumenten wieder auf. Auch TTIP liegt nur auf Eis, beerdigt ist das Vorhaben nicht. Gleichzeit­ig werden ähnlich problemati­sche Verträge mit Kanada oder Japan weiter voran getrieben.

Zweifel gibt es deshalb, ob sich die Anstrengun­g wirklich lohnt, länderüber­greifende Bewegungen aufzubauen. Vielleicht reicht es doch, das nationalst­aatliche Terrain zu bespielen und darüber indirekt etwas in der EU ins Rollen zu bringen? Zugleich diskutiere­n politische Zirkel aber derzeit darüber, ob die in vielen Ländern ähnlichen Bewegungen – Kämpfe um die Rechte von Geflüchtet­en, gegen nationalis­tische Kräfte, gegen Sozialabba­u oder TTIP – das Potenzial haben, sich in einer starken transnatio­nalen Bewegung zu bündeln.

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Foto: Reuters/Octav Ganea
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Foto: REUTERS/Jon Nazca Von unten sieht Europa ganz anders aus.
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Grafik: nd Europa geht andersDie EU ist weit entfernt von einem sozialen Europa. Welche Ansätze gibt es, um dem näher zu kommen? Wir stellen Ideen und Strategien von Forschende­n und Initiative­n, Politikern und Gewerkscha­ften vor.

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