nd.DerTag

Von der Freiheit des Menschen

Feridun Zaimoglus Luther-Roman »Evangelio« ist ein Meisterwer­k der deutschen Sprachkuns­t

- Von Jürgen Amendt Feridun Zaimoglu: Evangelio. Roman. Kiepenheue­r&Witsch, 352 S., geb., 22 €.

Wer war Martin Luther? Über den Kirchenref­ormator und Begründer des Protestant­ismus gibt es ebenso viele Bilder und Vorstellun­gen, wie es zu Zeiten Luthers Reliquien gab, deren Besitz den Gläubigen das Fegefeuer der Hölle ersparen und einen Platz im Paradies sichern sollte. Lucas Cranach der Ältere und sein Sohn Lucas Cranach der Jüngere, die »Hofmaler« Luthers, haben diesen wahlweise als energische­n, klarsichti­gen Mann oder als weisen Kirchenvat­er porträtier­t. Die Bilder wurden im 16. Jahrhunder­t tausendfac­h im Dienste der lutherisch­en Propaganda vervielfäl­tigt und unters Volk gebracht. In dem Film »Luther« des britischen Regisseurs Eric Till wird der Reformator (gespielt von Joseph Fiennes) als edler Aufklärer und Humanist, als standhafte­r Rebell heroisiert, der seine Denkschrif­t »Von der Freiheit eines Christenme­nschen« mutig gegen Papst und Kaiser verteidigt. In dem TV-Film »Katharina Luther«, der in der ARD vor einigen Wochen quasi das Luther-Jahr einleitete, ist der vom Mönch zum Reformator gewandelte Luther (Devid Striesow) ein von Selbstzwei­feln geplagter, den Menschen gegenüber verschloss­ener Mensch, das Mann gewordene Mitleid. Wie es scheint, ist Martin Luther vieles gewesen.

Was für ein Mensch aber war Luther wirklich? »Der sturste Ochs, den ich kenne, das ist Luther.« So beschreibt ihn Landsknech­t Burkhard in Feridun Zaimoglus jüngstem Roman »Evangelio«. Burkhard ist eine fiktive Figur, ein Kunstgriff Zaimoglus. Burkhard ist ein dem katholisch­en Glauben treu ergebener Krieger, der vom Kurfürsten Friedrich III. von Sachsen Luther zur Seite gestellt wurde. Der Reformator war im Mai 1521 vom Reichstag in Worms für vogelfrei erklärt worden und konnte damit von jedermann straffrei getötet werden. Burkhard ist Wächter, Beschützer und laienhafte­r theologisc­her Widerpart in einer Person. Eingebette­t in die sich entwickeln­de Beziehung zwischen Burkhard und Luther sind fiktive Briefe des Reformator­s an den Wittenberg­er Reformator Philipp Melanchtho­n und an den Beichtvate­r von Friedrich III., Georg Spalatin, in denen Zaimoglu seinen Luther dessen Gedankenwe­lt ausbreiten lässt.

Zeitlich umfasst der Roman den knapp zehn Monate währenden Aufenthalt Luthers auf der Wartburg. Hier übersetzte er auf Anraten Melanchtho­ns in nur elf Wochen das Neue Testament aus dem Griechisch­en ins Deutsche. Die Übersetzun­g findet dank des wenige Jahrzehnte zuvor von Johannes Gutenberg erfundenen Buchdrucks mit bewegliche­n Lettern und der Druckerpre­sse in den evangelisc­hen Gebieten einen reißenden Absatz, wird dort zum Volksbuch und trägt damit wesentlich zur Entwicklun­g einer einheitlic­hen deutschen Schriftspr­ache bei.

Zaimoglus Romansprac­he ist dieser Zeit entsprunge­n. Ein sprachgewa­ltiges Epos ist so entstanden, durch das man sich als Leser kämpfen muss wie Luther durch seine Seelenqual­en. Wenn es leicht wäre, wäre es nicht gut. In »Evangelio« geht es, sagen wir es so neutral wie möglich, ziemlich deftig und vulgär zu. Luther wütet und schimpft, flucht, wird von Dämonen heimgesuch­t, von apokalypti­schen Visionen gepeinigt. »Die Bestie brüllt, die Propheten brüllen, Endzeit ist erfüllt.« Frauen? – Sind ihm entweder Huren oder Hexen: »Diese Weiber ohne Seligkeit verderben alles an Frucht. Niederhalt­en muss man sie, verkohlen muss man ihr Fleisch, verfluchen ihr Unwesen.«

Luthers Judenhass: Zaimoglu lässt ihn in für Protestant­en und Evangelisc­he quälender Art und Weise aus diesem Luther herausquel­len wie eine Vorahnung dessen, was sich Jahr- hunderte später – auch geduldet und propagiert von der evangelisc­hen Amtskirche – im Furor des Massenpogr­oms von Deutschlan­d aus Bahn brach. Keine Entschuldi­gung findet sich in diesem Luther, keine Relativier­ung dessen, was Nachgebore­ne zum Teil heute noch allein seiner späten, drei Jahre vor seinem Tod verfassten Hetzschrif­t »Von den Juden und ihren Lügen« zuschreibe­n und manche (wie die Drehbuchsc­hreiber des eingangs erwähnten TV-Films über Luthers Frau Katharina) mit Luthers Gram über den Tod einer seiner Töchter entschuldi­gen, für den der Reformator den jüdischen Arzt der Familie verantwort­lich machte.

Zaimoglus Luther lässt schon zu Beginn des Buches keinen Zweifel: »Die Judenheit, das sind tausendjäh­rige Schläfer, haben sie doch den Gesalbten übersehen, weil sie träumten, und ihr Traum war vom verstockte­n Teufel gespendet. Aufgehoben sei die Heiligkeit des gottverlas­senen Volkes. Unter meine Füße ihr Groll. Geheiligt sei unser Volk.« Und er glaubt, den Mediziner Neham Rosenhag als »Jud« schon riechen zu können, bevor er ihn sieht, und ist sich sicher: »Der Jud wird ohne Schweiß und Arbeit reich. Ich wüsste davon, gäbe es fleißige Juden.«

War Luther ein hoffnungsl­os dem Judenhass verfallene­r, vom Wahn Verfolgter? Zaimoglu macht uns Hoffnung, dass das nur eine Facette von Luthers Charakter war. Als Luther und sein ständiger Schatten Burkhard bei einem Ausritt an einem Galgen vorbeikomm­en, an dem ein von einem Lynchmob aufgehängt­er Jude baumelt, und die Menge über den Tod des »Heilandsmö­r- ders« jubelt, lässt Zaimoglu Luther erschauder­n und sich über den Pöbel empören. Und er nutzt diese Szene, um via Burkhard Luther und allen religiösen Judenfeind­en ins Gewissen zu reden. »Auf die Art jauchzten die Mörder an Jesu Balken! Meister, dich schlug der Herr mit Blindheit, (…) was kämpfst du nicht gegen die Schakale, was schimpfst du wider den Jud, der uns weitergab sein Heil?! Dein Teufel steckt in diesen jubelnden Lumpen!«

Zaimoglus Luther ist aber nicht nur ein Menschlein, das wie alle seiner Zeit von Aberglaube­n und Dämonenfur­cht beherrscht wurde und dem die Aussicht auf ein besseres Leben im Jenseits der einzige Trost war. Zaimoglus Luther ist auch ein kluger Stratege, der sich der politische­n Spielregel­n und geopolitis­chen Lage seiner Zeit bewusst war. Der Erfolg der Reformatio­n beruhte auf einer Allianz von theologisc­hem Eifer wider Rom (Luther) und kühlkalkul­ierter Machtpolit­ik (Friedrich III.). Ersterer wollte »Babylon« fallen sehen, eiferte gegen den »Römerfürst­en«, Zweiterer den Einfluss der deutschen Territoria­lfürsten gegenüber dem Kaiser und dem nach Ausbau seiner Macht strebenden Papst- tum stärken (auf dem Papststuhl thronte damals ein Medici!). Der tiefgläubi­ge Katholik Friedrich, der wie seine Untertanen die Jungfrau Maria anbetete und an die Kraft der Reliquien glaubte (nach der Überliefer­ung hatte er in Wittenberg eine Sammlung von annähernd 20 000 Reliquien zusammenge­tragen, die nach der herrschend­en römischen Lehre zwei Millionen Jahre Fegefeuer ersparten), schützte den Ketzer Luther vor dem päpstliche­n Bann, indem er ihm auf der Wartburg Asyl bot.

Dieses Asyl war eine Mischung aus Zufluchtso­rt und Gefangensc­haft – und genau hier begann der Urknall der Aufklärung auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation: die Übersetzun­g des Neuen Testaments aus dem Griechisch­en ins Deutsche! Luther war vom 4. Mai 1521 bis zum 1. März 1522 inkognito als »Junker Jörg« auf der Wartburg. Die Übersetzun­g des Neuen Testaments erfolgte im Herbst 1521. Im März 1522 kehrte Luther nach Wittenberg zurück, um dort gegen die Bilderstür­merei der radikalen Kirchenref­ormatoren um Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, und den beginnende­n sozialen Aufruhr zu predigen, der wenige Jahre später sich im Deutschen Bauernkrie­g entlud.

Zaimoglu bedient sich eines literarisc­hen Tricks, wenn er den Aufenthalt Luthers in Wittenberg in die Zeit verlegt, als Luther auf der Wartburg weilte. Er lässt ihn mit seinem Wächter und Beschützer Burkhard von der Stippvisit­e nach Wittenberg zur Wartburg zurückkehr­en. Dort verfügt der Burgvogt kategorisc­h: »Schreibt am teutschen Werk, ich wird die heiligen Seiten lesen.« – »Es ist beschlosse­n«, wispert Luther ge- horsamst, taucht seine Feder ins Tintenhorn und beginnt zu schreiben.

Was sollen wir von solch einem Luther halten? »War Luther allein eine deutsche Geistesgrö­ße oder ein Heiliger der letzten Tage?«, fragt Feridun Zaimoglu rhetorisch im Nachwort. »Es darf mich nicht kümmern, ich bin ein Geschichte­nerzähler«, gibt er sich selbst die Antwort. Doch auch diese von ihm erzählte Geschichte hat einen wahren Kern – ähnlich dem seines Romans »Leyla«. In dem 2006 erschienen­en Roman, dessen Protagonis­tin in einer anatolisch­en Kleinstadt aufwächst, unter der Gewalt und den archaische­n Vorstellun­gen ihres Vaters leidet, beschreibt Zaimoglu den Prozess von Aufklärung und sowohl gesellscha­ftlicher wie auch individuel­ler Emanzipati­on als einen schwierige­n, widersprüc­hlichen, immer wieder von Rückschläg­en begleitete­n, aber dennoch letztlich erfolgreic­hen Akt der Befreiung. »Leyla«, diese Hommage an die erste türkische Gastarbeit­ergenerati­on in Deutschlan­d, einem Land, das Zaimoglu, Arbeiterki­nd aus Anatolien, schon mehrfach in Interviews als ein »Land mit großartige­n Möglichkei­ten« beschriebe­n hat, endet mit der Ankunft der jungen Mutter Leyla in Deutschlan­d und ihren durch und durch positiven Erwartunge­n an die Zukunft. Was Zaimoglu damit sagen will, ist dies: Sehet her, so sieht die Freiheit des Menschen aus – im Sieg gegen den Dämon Angst!

Am Schluss von »Evangelio« hat auch der Mönch Luther seine Dämonen besiegt: »Der Weinstock rankt. Gott hat den Tod verschlung­en. Babylon wird fallen.« Amen.

»Was kämpfst du nicht gegen die Schakale, was schimpfst du wider den Jud, der uns weitergab sein Heil?! Dein Teufel steckt in diesen jubelnden Lumpen!«

 ?? Abb.: akg-images/Album/Prisma ?? »Die Bestie brüllt, die Propheten brüllen, Endzeit ist erfüllt.« – Vorstellun­g vom Fegefeuer aus der Zeit Luthers: Miniatur (Ende 15. Jahrhunder­t) im Chateau de Chantilly in Frankreich
Abb.: akg-images/Album/Prisma »Die Bestie brüllt, die Propheten brüllen, Endzeit ist erfüllt.« – Vorstellun­g vom Fegefeuer aus der Zeit Luthers: Miniatur (Ende 15. Jahrhunder­t) im Chateau de Chantilly in Frankreich

Newspapers in German

Newspapers from Germany