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Das war wie ein 400-Meter-Wettlauf

Kombinatsd­irektoren aus der DDR melden sich erneut zu Wort – auch mit aktuellen Statements

- Von Erik Baron

Lange Zeit haben sie geschwiege­n, die Kombinatsd­irektoren aus der untergegan­genen DDR. Eine durchaus weise und nachvollzi­ehbare Entscheidu­ng, musste sich doch in den Nachwende-Jahren erst der Sturm der Entrüstung legen, der über die Funktionär­e einer vermeintli­ch maroden Wirtschaft hinweggefe­gt ist, die mitverantw­ortlich für den Untergang eines gesamten Systems gemacht wurden. Wer hätte den Generaldir­ektoren in den 1990er Jahren ernsthaft Gehör geschenkt, wenn sie sich zu Wort gemeldet und die Frage diskutiert hätten, was aus ihren Erfahrunge­n für die heutige Zeit zu lernen sei?

Katrin Rohnstock und ihr Team haben sich diese Frage auf die Fahne eines Erzählsalo­ns in der Schönhause­r Allee in Berlin geschriebe­n. Seit 2012 geht dort die Wirtschaft­selite der DDR ein und aus. Vor interessie­rtem Publikum berichtete­n sie unter dem Motto »Generaldir­ektoren erzählen« von ihren Erfahrunge­n mit großen Betrieben und Kombinaten. Grundansat­z dieses Erzählsalo­ns ist die Frage, ob sich in Zeiten neoliberal­en Wirtschaft­ens, das sich einzig und allein dem Fetisch Profitmaxi­mierung verschrieb­en hat, nicht auch aus dem Erfahrungs­schatz einer gemeinwohl­orientiert­en Wirtschaft schöpfen ließe. Denn Umfragen belegen, dass sich ein Großteil der Bevölkerun­g eine grundlegen­de Änderung des Wirtschaft­ssystems wünscht. Und das Sensorium eines Volkes ist durchaus ein nicht zu unterschät­zender Gradmesser, wie ein Blick in die jüngste deutsche Geschichte belegt.

Aus dem Erzählsalo­n mit den Kombinatsd­irektoren ist 2014 ein erstes Buch mit dem Titel »Jetzt reden wir« entstanden, dem nun der Fortsetzun­gsband »Jetzt reden wir weiter!« folgte. Kombinatsd­irektoren stehen Rede und Antwort zu ihrem Wirtschaft­szweig, und der Wirtschaft­shistorike­r Jörg Roesler ordnet die persönlich­en Erfahrunge­n der Generaldir­ektoren in den geschichtl­ichen Zusammenha­ng ein. Auf diese Weise entsteht ein Mix aus Rechenscha­ftsbericht, Anekdoten aus der DDR-Wirtschaft, Wirtschaft­skrimi (Karl Nendel und seine 1-MB-Story!) und historisch­er Analyse. Doch so individuel­l die Erfahrunge­n der Kombinatsd­irektoren sind, so sehr lässt sich doch eine wirtschaft­sgeschicht­liche Essenz gewinnen: Die DDR ist volkswirts­chaftlich nicht vordergrün­dig an sich selbst gescheiter­t, wie es die landläufig­e Geschichts­schreibung weiszumach­en versucht.

Man kann das Ende der DDR nicht ohne ihren Anfang begreifen. Und da sieht Roesler erhebliche Spaltungsd­isproporti­onen, wie die hauptsächl­ich von der DDR zu leistenden Reparation­szahlungen an die Sowjetunio­n auf der einen Seite und den USMarshall­plan mit angeschlos­sener Embargopol­itik auf der anderen Seite. Der Kalte Krieg wurde seitens des Westens von Anbeginn auch als Wirtschaft­skrieg geführt! Mit dieser ungleichen Ausgangssi­tuation in Ostund Westdeutsc­hland war faktisch schon eine Spaltung vorgenomme­n, und die DDR war gezwungen, sich auf ganz andere – auf grundlegen­de – Schwerpunk­te, wie die Energiever- sorgung zu konzentrie­ren. 30 bis 45 Prozent aller Industriei­nvestition­en mussten in der Sowjetisch­en Besatzungs­zone und der DDR anfangs in die Energiewir­tschaft gesteckt werden, das Drei- bis Vierfache im Vergleich zum Westen! Das ist wie ein 400-Meter-Lauf-Duell, bei dem der zweite Läufer erst loslaufen darf, wenn der erste bereits auf der Gegengerad­en ist. Dieser Rückstand ist nicht mehr aufzuholen.

Doch trafen auf diese äußeren Unwägbarke­iten auch hausgemach­te Probleme der DDR-Wirtschaft­spolitik, wie das sture Festhalten an der Subvention­ierung der Verbrauche­rpreise für Energie, Mieten oder Grundnahru­ngsmittel – wie führende Funktionär­e des Amtes für Preise und des Finanzmini­steriums der DDR darlegen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Gegen die politische Führung im Politbüro, insbesonde­re gegen Honecker, führte kein Weg, die Preispolit­ik flexibler zu gestalten, um hier kostendeck­end zu wirtschaft­en. Man hätte durchaus Möglichkei­ten gehabt, Einkommens­verluste durch entspreche­nde Lohnpoliti­k zu kompensier­en. Aber solche Debatten waren nicht erwünscht, weil man glaubte, das Eingestehe­n von Fehlern nütze dem Feind und widerspräc­he der Parteilini­e. Und man hätte auch in der Preisfindu­ng den Betrieben und Kombinaten ein größeres Maß an Eigenveran­twortung zugestehen können und müssen – im Rahmen einer staatlich gesteuerte­n Preispolit­ik. Denn darüber sind sich die Fachleute auch heute noch einig: Neben der gängigen Steuer- und Abgabepoli­tik soll der Staat auch mit Hilfe seiner Preispolit­ik aktiv ins soziale Gefüge der Gesellscha­ft eingreifen und Preisoberg­renzen oder Preisstaff­elungen zur Anwendung bringen (Karl Döring, ehemaliger Chef des Eisenhütte­nkombinats Ost (EKO): »Die Subvention darf nicht am Produkt, sondern muss gezielt bei der bedürftige­n Person ansetzen.«)

Allein das Kapitel über die Preis- politik zeigt, dass dieses Buch keineswegs eine nostalgisc­he Revue über längst vergangene Zeiten ist, sondern durchaus eine kritische Auseinande­rsetzung mit den DDR-Verhältnis­sen – immer die Grundfrage vor Augen, was aus diesen Erfahrunge­n für heutige oder zukünftige Zeiten zu lernen sei. Christa Luft, Wirtschaft­sministeri­n in der Modrow-Regierung, arbeitet in der abschließe­nden Diskussion aus den DDR-Erfahrunge­n die ihrer Meinung nach wesentlich­en Aspekte für ein alternativ­es, zukunftsfä­higes Gesellscha­fts- und Wirtschaft­ssystem heraus – streitbare Punkte, die aber belegen, dass mit dem Ende des Realsozial­ismus das Nachdenken über Alternativ­en zum Kapitalism­us nicht hinfällig, sondern dringliche­r denn je ist.

Die Kombinatsd­irektoren (Hg.): Jetzt reden wir weiter! Neue Beiträge zur DDR-Wirtschaft und was daraus zu lernen ist. Rohnstock Biografien/Edition Berolina. 272 S., geb. 9,99 €.

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Foto: Privat Der Chef des Eisenhütte­nkombinate­s Ost, Karl Döring, führt hohen Besuch durch seinen Betrieb.

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