Das war wie ein 400-Meter-Wettlauf
Kombinatsdirektoren aus der DDR melden sich erneut zu Wort – auch mit aktuellen Statements
Lange Zeit haben sie geschwiegen, die Kombinatsdirektoren aus der untergegangenen DDR. Eine durchaus weise und nachvollziehbare Entscheidung, musste sich doch in den Nachwende-Jahren erst der Sturm der Entrüstung legen, der über die Funktionäre einer vermeintlich maroden Wirtschaft hinweggefegt ist, die mitverantwortlich für den Untergang eines gesamten Systems gemacht wurden. Wer hätte den Generaldirektoren in den 1990er Jahren ernsthaft Gehör geschenkt, wenn sie sich zu Wort gemeldet und die Frage diskutiert hätten, was aus ihren Erfahrungen für die heutige Zeit zu lernen sei?
Katrin Rohnstock und ihr Team haben sich diese Frage auf die Fahne eines Erzählsalons in der Schönhauser Allee in Berlin geschrieben. Seit 2012 geht dort die Wirtschaftselite der DDR ein und aus. Vor interessiertem Publikum berichteten sie unter dem Motto »Generaldirektoren erzählen« von ihren Erfahrungen mit großen Betrieben und Kombinaten. Grundansatz dieses Erzählsalons ist die Frage, ob sich in Zeiten neoliberalen Wirtschaftens, das sich einzig und allein dem Fetisch Profitmaximierung verschrieben hat, nicht auch aus dem Erfahrungsschatz einer gemeinwohlorientierten Wirtschaft schöpfen ließe. Denn Umfragen belegen, dass sich ein Großteil der Bevölkerung eine grundlegende Änderung des Wirtschaftssystems wünscht. Und das Sensorium eines Volkes ist durchaus ein nicht zu unterschätzender Gradmesser, wie ein Blick in die jüngste deutsche Geschichte belegt.
Aus dem Erzählsalon mit den Kombinatsdirektoren ist 2014 ein erstes Buch mit dem Titel »Jetzt reden wir« entstanden, dem nun der Fortsetzungsband »Jetzt reden wir weiter!« folgte. Kombinatsdirektoren stehen Rede und Antwort zu ihrem Wirtschaftszweig, und der Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler ordnet die persönlichen Erfahrungen der Generaldirektoren in den geschichtlichen Zusammenhang ein. Auf diese Weise entsteht ein Mix aus Rechenschaftsbericht, Anekdoten aus der DDR-Wirtschaft, Wirtschaftskrimi (Karl Nendel und seine 1-MB-Story!) und historischer Analyse. Doch so individuell die Erfahrungen der Kombinatsdirektoren sind, so sehr lässt sich doch eine wirtschaftsgeschichtliche Essenz gewinnen: Die DDR ist volkswirtschaftlich nicht vordergründig an sich selbst gescheitert, wie es die landläufige Geschichtsschreibung weiszumachen versucht.
Man kann das Ende der DDR nicht ohne ihren Anfang begreifen. Und da sieht Roesler erhebliche Spaltungsdisproportionen, wie die hauptsächlich von der DDR zu leistenden Reparationszahlungen an die Sowjetunion auf der einen Seite und den USMarshallplan mit angeschlossener Embargopolitik auf der anderen Seite. Der Kalte Krieg wurde seitens des Westens von Anbeginn auch als Wirtschaftskrieg geführt! Mit dieser ungleichen Ausgangssituation in Ostund Westdeutschland war faktisch schon eine Spaltung vorgenommen, und die DDR war gezwungen, sich auf ganz andere – auf grundlegende – Schwerpunkte, wie die Energiever- sorgung zu konzentrieren. 30 bis 45 Prozent aller Industrieinvestitionen mussten in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR anfangs in die Energiewirtschaft gesteckt werden, das Drei- bis Vierfache im Vergleich zum Westen! Das ist wie ein 400-Meter-Lauf-Duell, bei dem der zweite Läufer erst loslaufen darf, wenn der erste bereits auf der Gegengeraden ist. Dieser Rückstand ist nicht mehr aufzuholen.
Doch trafen auf diese äußeren Unwägbarkeiten auch hausgemachte Probleme der DDR-Wirtschaftspolitik, wie das sture Festhalten an der Subventionierung der Verbraucherpreise für Energie, Mieten oder Grundnahrungsmittel – wie führende Funktionäre des Amtes für Preise und des Finanzministeriums der DDR darlegen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Gegen die politische Führung im Politbüro, insbesondere gegen Honecker, führte kein Weg, die Preispolitik flexibler zu gestalten, um hier kostendeckend zu wirtschaften. Man hätte durchaus Möglichkeiten gehabt, Einkommensverluste durch entsprechende Lohnpolitik zu kompensieren. Aber solche Debatten waren nicht erwünscht, weil man glaubte, das Eingestehen von Fehlern nütze dem Feind und widerspräche der Parteilinie. Und man hätte auch in der Preisfindung den Betrieben und Kombinaten ein größeres Maß an Eigenverantwortung zugestehen können und müssen – im Rahmen einer staatlich gesteuerten Preispolitik. Denn darüber sind sich die Fachleute auch heute noch einig: Neben der gängigen Steuer- und Abgabepolitik soll der Staat auch mit Hilfe seiner Preispolitik aktiv ins soziale Gefüge der Gesellschaft eingreifen und Preisobergrenzen oder Preisstaffelungen zur Anwendung bringen (Karl Döring, ehemaliger Chef des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO): »Die Subvention darf nicht am Produkt, sondern muss gezielt bei der bedürftigen Person ansetzen.«)
Allein das Kapitel über die Preis- politik zeigt, dass dieses Buch keineswegs eine nostalgische Revue über längst vergangene Zeiten ist, sondern durchaus eine kritische Auseinandersetzung mit den DDR-Verhältnissen – immer die Grundfrage vor Augen, was aus diesen Erfahrungen für heutige oder zukünftige Zeiten zu lernen sei. Christa Luft, Wirtschaftsministerin in der Modrow-Regierung, arbeitet in der abschließenden Diskussion aus den DDR-Erfahrungen die ihrer Meinung nach wesentlichen Aspekte für ein alternatives, zukunftsfähiges Gesellschafts- und Wirtschaftssystem heraus – streitbare Punkte, die aber belegen, dass mit dem Ende des Realsozialismus das Nachdenken über Alternativen zum Kapitalismus nicht hinfällig, sondern dringlicher denn je ist.
Die Kombinatsdirektoren (Hg.): Jetzt reden wir weiter! Neue Beiträge zur DDR-Wirtschaft und was daraus zu lernen ist. Rohnstock Biografien/Edition Berolina. 272 S., geb. 9,99 €.