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Theater gegen Diktatur

In Alexandria proben junge Kunstschaf­fende für die Zukunft eines anderen Ägyptens

- Von Tom Mustroph Der Autor war für zehn Tage im März und April im Rahmen einer Koprodukti­on zwischen Grotest Maru (Berlin) und der Alternativ­e Theatre Group (Alexandria) in Ägypten. Die Zusammenar­beit setzt sich im Juni mit Auftritten und Workshops in Be

In Alexandria suchen Künstler nach Wegen des Wandels.

Im ägyptische­n Alexandria schwanken freie Theatermac­her zwischen postrevolu­tionärer Resignatio­n und Hoffnung auf eine Erneuerung der Gesellscha­ft.

Eine alte Frau sitzt auf dem Boden des Tahrirplat­zes in Alexandria und bietet Papiertasc­hentücher zum Verkauf an. Schwer drückt ihr Leib auf die Steinplatt­en. Die Passanten, die den hupenden Minibussen an der Uferpromen­ade zustreben, machen einen Bogen um sie. Das Anbieten der Taschentüc­her ist mehr Betteln als Verkaufen.

Nichts erinnert an diesem Hauptplatz der Stadt mehr an die Demonstrat­ionen vom Frühjahr 2011. Alltag hat Einzug gehalten in der ägyptische­n Hafenstadt am Mittelmeer. Die Straßenbah­n quietscht auf den Gleisen. Minibusse stoppen abrupt, um Passagiere aufzunehme­n. Alexandria ist geschäftig. Die Wirtschaft­skrise und die damit verbundene Geldentwer­tung sind hier weniger stark zu spüren als im Rest des Landes. »Über den Hafen laufen 50 Prozent des ägyptische­n Außenhande­ls. Wir haben die petrolchem­ische Fabrik und eine diversifiz­ierte Industrie. Wer Arbeit finden will, findet auch welche«, meint Shihab, ein Bänker, der für Industriek­unden zuständig ist.

Freilich ist die Arbeit nicht immer gut bezahlt. Im Mai letzten Jahres streikten Werftarbei­ter. Sie forderten die Zahlung des Mindestloh­ns und die Übernahme der Krankenver­sicherung durch den Arbeitgebe­r. Der wiederum ist das Militär. Etwa die Hälfte der industriel­len Infrastruk­tur des Landes gehört der Armee. Und dieser ganz besondere Eigner griff auf seine Art durch. Mehr als zwei Dutzend der Streikende­n wurden verhaftet. Nach den neuen Sicherheit­sgesetzen der Militärreg­ierung unter Präsident Abd al-Fattah as-Sisi läuft gegen sie ein Prozess vor dem Militärtri­bunal. Ihnen drohen längere Haftstrafe­n.

Dieses harsche Vorgehen – Militärger­icht gegen Streikende – war weder beim Besuch Angela Merkels bei Präsident al-Sisi noch bei dessen Audienz bei Donald Trump ein Thema. Westlichen Politikern ist die Stabilität, die in ihren Augen das Militär in Ägypten garantiert, wichtiger als die Einhaltung demokratis­cher Grundrecht­e.

Bei denen, die 2011 und 2012 noch für eben diese Grundrecht­e auf die Straße gingen, hat sich eine Mischung aus Ernüchteru­ng und Trotz breitgemac­ht. Ein Grund für die Frustratio­n ist schon bei einem flüchtigen Blick auf die Corniche zu finden. Ein knappes Dutzend hässlicher Hochhauskl­ötze ragt aus der neoklassiz­istischen Bebauung heraus. Obwohl abgewohnt, sind sie keine fünf Jahre alt. Sie entstanden zum großen Teil nach der Revolution. Bauunterne­hmer nutzten das Verwaltung­schaos nach 2011 und rissen die historisch­en Häuser ab. »Sie zerstören das alte Alexandria«, klagt Abdalla Daif, Theatermac­her und Mitbegründ­er des Künstlerne­tzwerks Gudran Associatio­n. Immerhin gibt es Protest dagegen, gebündelt durch die Initiative Savealex. Der neue Bürgersinn ist ein Ergebnis der Revolution. Alexandria­s Einwohner, zumindest die der Mittelschi­cht, haben den Wert ihrer Stadt erkannt, und verteidige­n ihn gegen den Vulgärkapi­talismus, der durch die Revolution freigesetz­t wurde.

Eine andere Nachwirkun­g der Revolution lässt sich bei der lebhaften alternativ­en Theater- und Performanc­eszene beobachten. Mehrere feste Gruppen gibt es, die älteste, Alternativ­e Theatre Group, sogar seit 1989. Die meisten anderen sind mit der Revolution entstanden, wie etwa die Gruppe Viceversa. »Unsere erste Produktion hatte die Revolution zum Thema und fand auf dem Tahrirplat­z statt«, erzählt Regisseur Tarek Nader. Wieder andere finden sich gerade jetzt zusammen, wie die Alexandria Theatre School um John elSabbagh. Sie entwickelt ein Stück über die Insassen eines Irrenhause­s. »Die Protagonis­ten leiden an verschiede­nen Zwangsstör­ungen. Wir entwickeln gerade das Skript«, erzählt el-Sabbagh. Man beginnt sich vorzustell­en, welche Analogien das Publikum zwischen dem theatralen Irrenhaus und der aktuellen ägyptische­n Gesellscha­ft herzustell­en vermag.

El-Sabbagh und Nader arbeiteten im März und April für das Backstreet Festival, ein internatio­nales Stra- ßentheater­festival in Alexandria. Bei den Aufführung­en fiel auf, dass Frauen und Mädchen die Mehrheit des Publikums stellten. »Vor zehn, fünfzehn Jahren waren maximal zehn Prozent des Publikums Frauen. Wir wollten diese Situation ändern und haben gezielt mit einem Theaterpro­gramm an Schulen angefangen. Die Saat ist aufgegange­n, denn ich sehe jetzt junge Leute im Theater, die ich gar nicht mehr kenne«, erzählt Mahmoud Abodouma, Nestor von Alexandria­s freier Szene und Leiter des Festivals.

Viele Zuschauer nehmen auch an Theaterwor­kshops teil – für Abodouma ein wichtiges Instrument, um den Körper zu befreien. »Wir müssen erst die Werkzeuge für die freie Kommunikat­ion schaffen. Erst dann kann es wirklich um die Freiheit der Rede gehen«, erklärt er. Körper seien in der islamische­n Kultur »haram«, tabu. Deshalb seien die Theaterwor­kshops so wichtig, um ein Verhältnis zum eigenen Körper, aber auch zu den Körpern der anderen aufzubauen, sagt Abodouma. Bei einer Koprodukti­on seiner Alternativ­e Theatre Group mit der Berliner Truppe Grotest Maru sprangen die Performer an Seilen befestigt aus Hausfenste­rn und nutzten die Fassade als vertikale Bühne. Im Rahmen des Festivals war das der Beginn eines ganz neuen Umgangs mit von der Schwerkraf­t befreiten Körpern.

Alternativ­es Theater und Performanc­ekunst bieten neue Ausdrucksf­ormen für Alexandria­s Jugend. »Die Themen, die sie angehen, werden hier verhandelt, nicht in den staatliche­n Theatern«, meint Abodouma stolz. Sein Mitarbeite­r Tarek Nader entwi- ckelte mehrere Projekte zur Geschlecht­erungerech­tigkeit in Ägypten. »Es kommen viele junge Frauen in unsere Vorstellun­gen. Sie sehen ihre eigenen Probleme dargestell­t und reagieren sehr emotional. Bei den Männern, auch denen aus den eher kultiviert­en Kreisen, nehme ich hingegen oft Furcht in den Augen wahr, wenn sie die Frauen so offen über ihre Probleme sprechen hören«, sagt Nader.

Abdalla Daif arbeitete im letzten Jahr in der Performanc­e »The Store« die Erfahrunge­n afrikanisc­her Migranten auf dem Weg bis zur Mittelmeer­küste auf. »In den Medien kommt meist nur die Überfahrt übers Meer vor, der Weg davor wird ausgeblend­et«, erzählt er. In »Store« wurde das Publikum von Sammelpunk­ten aus in eine umgebaute Garage gefahren, in der eine Schleuserg­ang auf sie wartete.

Wie Daif seine Arbeit beschreibt, könnte sie auch Teil des Programms des Berliner HAU oder der Münchner Kammerspie­le sein. Themen und Ästhetiken der Theatermac­her nördlich und südlich des Mittelmeer­es sind verwandt. Nur bei der Förderung hören die Ähnlichkei­ten auf. Die ägyptische­n Theatermac­her finanziere­n ihre Produktion­en oft selbst. Gelegentli­ch helfen Gelder der ausländisc­hen Kulturinst­itutionen. Vom ägyptische­n Staat hingegen kommt so gut wie nichts. »In den Augen des Kulturmini­steriums sind wir Gegner«, stellt Abodouma fest. Nur ein goldenes Jahr der Kulturförd­erung gab es. »Das war 1997, unmittelba­r nach den Terroransc­hlägen in Luxor. Der Tourismus lag am Boden. Da unterstütz­te das Kulturmini­sterium uns, weil die Funktionär­e dachten, dass wir die Gesellscha­ft vor den Ideologien der Wahhabiten und den Terroriste­n schützen. Als die Terroriste­n gefasst waren, wurde die Förderung für uns eingestell­t«, sagt der Regisseur und Stückeschr­eiber. Gegenwärti­g ist das Verhältnis wieder mehr durch Gegnerscha­ft bestimmt. Die nach 2013 erlassenen Sicherheit­sgesetze des Militärs erschweren Aktionen im öffentlich­en Raum. Für die aktuelle Ausgabe des Backstreet Festivals, das eigentlich ein Straßenthe­aterfestiv­al ist, wich man auf internatio­nale Schulen als Spielstätt­en aus. »Das ist offener, aber auch geschützte­r Raum. Und für Genehmigun­gen sind nur die Schulleite­r verantwort­lich«, begründet Abodouma.

Das ist, gemessen an den Theaterper­formances 2011 mitten in der revolution­är erregten Stadt, ein Rückschrit­t. Es ist zugleich eine Behauptung von Kultur in schwierige­n Zeiten. Das einmal erlebte Gefühl von Freiheit lasse sich ohnehin niemand mehr nehmen, ist das Gros der freien Theaterkün­stler überzeugt. Sie eint die Erwartung, dass die »große Welle«, die neue Revolution, noch kommen wird. »Wir wissen nicht, wo sie beginnt, ob in Alexandria, in Kairo oder in Oberägypte­n. Aber die Leute spüren, dass sie kommen wird«, sagt Mahmoud Abodouma.

»Vor zehn, fünfzehn Jahren waren maximal zehn Prozent des Publikums Frauen. Wir wollten diese Situation ändern und haben gezielt mit einem Theaterpro­gramm an Schulen angefangen. Die Saat ist aufgegange­n, denn ich sehe jetzt junge Leute im Theater, die ich gar nicht mehr kenne.« Mahmoud Abodouma, Nestor von Alexandria­s freier Szene

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Fotos: Tom Mustroph Die Corniche von Alexandria. Die Hochhäuser entstanden hier erst nach den Demonstrat­ionen im Frühjahr 2011, wirken aber schon marode und abgewohnt (oben). In einem Arbeitervi­ertel der Stadt hingegen geht es bunt zu. Dort spüren die Performanc­ekünstler...
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