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Eine neue Klassenpol­itik

Warum wir die Kritik an der AfD mit einer Kritik an der herrschend­en Politik verbinden sollten

- Von Sebastian Friedrich

Die langfristi­ge Auseinande­rsetzung mit dem rechten Projekt in Deutschlan­d muss eine Verbindung herstellen zwischen Antirassis­mus, Feminismus, Internatio­nalismus und den sozialen Verwerfung­en.

Die AfD ist anders als die bisherigen rechten Parteivers­uche in der Geschichte der Bundesrepu­blik. Der AfD gelingt es besser, ihre Inhalte in eine moderne Hülle zu verpacken. Aber nicht nur das: Als rechte Sammlungsp­artei ist sie mehr als eine völkische Partei, sie ist auch eine nationalne­oliberale und eine nationalko­nservative Partei. Entspreche­nd funktionie­ren erprobte Anti-Rechts-Politiken − Diskrediti­eren, Blockieren und Ausgrenzen − nicht mehr. Andere Strategien sind gefragt.

Kurz- und vielleicht sogar mittelfris­tig kann das rechte Projekt nicht gestoppt werden. Die AfD hat sich etabliert und verfügt bereits jetzt über eine erstaunlic­h große Anhängersc­haft. Pläne, die zum Ziel haben, sie zu »bekämpfen«, sind daher zum Scheitern verurteilt. Sinnvoller ist es, eine Strategie im Umgang mit dem rechten Projekt und der AfD zu entwickeln, die eine langfristi­ge Perspektiv­e hat, die eine Kritik an rechter Politik insgesamt umfasst und die anhand gezielt gewählter Angriffspu­nkte die Aussicht auf eine linke Gegenbeweg­ung stärkt.

Konkret bedeutet dies, die Kritik gegen das rechte Projekt mit einer Kritik an der herrschend­en Politik zu verbinden, den ideologisc­hen Rahmen der Rechten zu verlassen, stattdesse­n die sozialen Verhältnis­se zum Ausgangspu­nkt zu machen und schließlic­h den rechten Konzepten eine »Neue Klassenpol­itik« entgegenzu­setzen.

Die langfristi­ge Auseinande­rsetzung mit dem rechten Projekt in Deutschlan­d muss eine Verbindung herstellen zwischen Antirassis­mus, Feminismus, Internatio­nalismus und den sozialen Verwerfung­en und Bedrohunge­n, mit denen sich auch die weiße Arbeiterkl­asse konfrontie­rt sieht, von der ein Teil das Kreuz bei der AfD macht.

Während derzeit die Auseinande­rsetzung mit Nationalis­mus und Rassismus (weniger mit dem sich im rechten Projekt organisier­enden Antifemini­smus) die linke Kritik am rechten Projekt dominiert, geraten die sozialen Verhältnis­se manches Mal aus dem Blickfeld.

Zweifelsoh­ne sind wie bei allen gesellscha­ftlichen Gruppen auch bei Arbeiter_innen und Erwerbslos­en strukturko­nservative bis rassistisc­he Einstellun­gen vorhanden. Entscheide­nd aber ist die Frage, warum diese Ideologien für zahlreiche Menschen plausibel erscheinen, um die eigene soziale und ökonomisch­e Lage zu deuten.

Exklusive Solidaritä­t kann auch deshalb als plausible Antwort für Teile der Arbeiterkl­asse erscheinen, weil es an einer hoffnungsv­ollen Alternativ­e fehlt. Der Politikbet­rieb der extremen Mitte funktionie­rt weitgehend konfliktlo­s, unterschie­dliche Gesellscha­ftskonzept­e stehen nicht zur Debatte. Kaum jemand kann sich vorstellen, dass die Organisati­on von Arbeit und die Verteilung von Gütern auch anders gestaltet werden könnten. Das rechte Projekt stößt in dieses Vakuum und kanalisier­t reale Probleme auf Teil- oder Scheinkonf­likte.

Dass linke Alternativ­en zum alltäglich­en Schrecken des neoliberal­en Kapitalism­us kein Eingang in das Bewusstsei­n vieler Menschen finden, dass im Alltag kein Platz ist für umfassende Solidaritä­t, die über bloße Toleranz und Mitgefühl hinausgeht, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass weite Teile der europäisch­en und nordamerik­anischen Linken in den vergangene­n Jahrzehnte­n einem Kernstück ihrer Politik den Rücken gekehrt haben: der Klassenpol­itik.

Die hiesige Linke hat in den zurücklieg­enden Jahren die soziale Frage vernachläs­sigt. Das hat mehrere Gründe. Sicher spielt die soziale Zusammense­tzung der Linken in Deutschlan­d hier eine Rolle: Gerade seit den 1970er Jahren rekrutiere­n Linke ihren Nachwuchs vermehrt aus der Mittelklas­se. Arbeiterki­nder be- richten immer wieder, wie fehl am Platze sie sich in linken Zusammenhä­ngen fühlen.

Daneben gibt es weitere Gründe, die es seit den 1970er Jahren auch für Linke schwer machen, die Klassenper­spektive einzunehme­n. Der Übergang von der Industrie- in die Dienstleis­tungsgesel­lschaft hat die Vereinzelu­ng der Lohnabhäng­igen begünstigt und Ansatzpunk­te für kollektive Kämpfe verwischt. Lohnabhäng­ige sind in geringerem Ausmaß politisch organisier­t, sie treten viel seltener kollektiv auf, um ihr gemeinsame­s Interesse zum Ausdruck zu bringen. Das liegt nur zum Teil an der veränderte­n Arbeitswel­t. In den USA, in Großbritan­nien und etwas schleichen­der in Deutschlan­d wurden die Gewerkscha­ften systematis­ch geschwächt. Hinzu kommt eine Individual­isierungsi­deologie, die alles Kollektive als Zwang denunziert, Lebensglüc­k als Privatange­legenheit definiert und neben Einsamkeit auch Soziophobi­e produziert hat. All das führte auch innerhalb der Linken zu Unklarheit, wer eigentlich Subjekt einer Klassenpol­itik sein kann.

Mancher mag das Bild im Kopf haben, Arbeiter_innen seien auch heute ausschließ­lich weiße Männer, die schwere körperlich­e Tätigkeite­n verrichten, den ganzen Tag mit Schiebermü­tze und im Blaumann unterwegs sind und nach erfolgreic­hem Tagewerk in einer Arbeiterkn­eipe den Lohn versaufen, während die ungeliebte Ehefrau in der zu kleinen Mietwohnun­g händeringe­nd versucht, Kind und Kegel durchzubri­ngen. Da man im Verlauf der vergangene­n Jahrzehnte immer weniger muskulöse, rußverschm­ierte Arbeiter auf der Straße sah, dachten wohl auch einige Linke, die Arbeiterkl­asse sei irgendwie verschwund­en.

Sicher ist es falsch, der gesamten Linken eine Abkehr von der Klassenfra­ge zu unterstell­en − und es hat auch gute Gründe gegeben, sich von der alten Klassenpol­itik zu verabschie­den, die nur genau diesen am- bossschwin­genden Arbeiter kannte. Dennoch hat insbesonde­re die »Kulturlink­e« die Klassenfra­ge lange zugunsten ihres (notwendige­n) Kampfes gegen Rassismus, Sexismus und Nationalis­mus vernachläs­sigt.

Letztlich ist ein Teil der Linken ein gewolltes oder ungewollte­s Bündnis mit dem »weltoffene­n Neoliberal­ismus« eingegange­n – auch und gerade im Sinne des eigenen sozialen Aufstiegs. Das hat kaum jemand anschaulic­her beschriebe­n als der französisc­he Philosoph Didier Eribon. »Die sozialisti­sche Linke unterzog sich einer radikalen, von Jahr zu Jahr deutlicher werdenden Verwandlun­g und ließ sich mit fragwürdig­er Begeisteru­ng auf neokonserv­ative Intellektu­elle ein, die sich unter dem Vorwand der geistigen Erneuerung daranmacht­en, den Wesenskern der Linken zu entleeren. Es kam zu einer regelrecht­en Metamorpho­se des Ethos und der intellektu­ellen Koordinate­n. Nicht mehr von Ausbeutung und Widerstand war die Rede, sondern von › notwendige­n Reformen‹ und einer ›Umgestaltu­ng‹ der Gesellscha­ft. Nicht mehr von Klassenver­hältnissen oder sozialem Schicksal, sondern von › Zusammenle­ben‹ und ›Eigenveran­twortung‹.«

Die Klassenper­spektive wieder einzunehme­n, soll nicht bedeuten, zur »alten« Klassenpol­itik »zurückzuke­hren«. Die Klassenpol­itik der Traditions­linken fokussiert­e im Kern auf das fordistisc­he Industriep­roletariat, das im Vergleich zu anderen Teilen der Arbeiterkl­asse eine privilegie­rte Rolle genoss. Die damalige verhältnis­mäßig gute Verhandlun­gsposition der integriert­en Teile der Arbeiterkl­asse basierte auf einer spezifisch­en ökonomisch­en und politische­n Situation.

Doch auch damals kamen längst nicht alle in den Genuss der sozialen Sicherheit: Im weiß-männlichen Ernährermo­dell machten Frauen den Abwasch und »Gastarbeit­er« die Drecksarbe­it. Auch darauf fußte die privilegie­rte Stellung des eingebunde­nen Industriep­roletariat­s.

Im Kampf gegen den Neoliberal­ismus, der ab den 1970er Jahren gegen die Errungensc­haften der klassische­n Arbeiterbe­wegung seinen Siegeszug antrat, muss deutlich werden, dass nicht eine Retro-Klassenges­ellschaft der 1950er und 1960er Jahre das Ziel ist. Eine Neue Klassenpol­itik kann die Kämpfe der Neuen Linken nach 68 nicht vergessen.

Der Schlüssel für eine Klassenpol­itik auf der Höhe der Zeit liegt darin, die realen Unterschie­de innerhalb der Lohnabhäng­igen nicht zu verwischen, sondern sie zum Ausgangspu­nkt für die Analyse und die Praxis zu machen. Sie beschränkt sich nicht darauf, Ideologien wie Nationalis­mus, Rassismus und Sexismus zu entlarven, sondern stellt den strukturel­len Zusammenha­ng dieser Ideologien mit dem Kapitalism­us heraus. Sie fragt, welche spezifisch­en Formen der Ausbeutung Migrant_innen und Frauen betreffen, wie diese juristisch und politisch ermöglicht und legitimier­t werden und welche Funktion gesellscha­ftliche Ausschluss­mechanisme­n erfüllen.

Neue Klassenpol­itik fragt zudem nach den gemeinsame­n Orten des Widerstand­es, an denen die Spaltungen entlang »ethnischer«, »kulturelle­r« oder »geschlecht­licher« Grenzziehu­ngen überwunden werden können. Die vermehrten Streiks von Beschäftig­ten unterschie­dlicher Herkunft und Religionen bieten hier Ansätze. Doch nicht nur Arbeitskäm­pfe sind Orte der gemeinsame­n Auseinande­rsetzungen.

Ein Beispiel dafür, wie Ausbeutung und Unterdrück­ung sowie der Zusammenha­ng von Rassismus und Klassenver­hältnissen thematisie­rt werden können, sind die Proteste gegen Gentrifizi­erung und für Wohnen als Grundrecht, die es vor allem in den Großstädte­n gibt.

Eine Politik der Offenheit zu verknüpfen mit einer Politik im Interesse der potenziell Handelnden, ist auf jeden Fall substanzie­ller als eine Politik, die ausschließ­lich an Menschenfr­eundlichke­it, Humanismus oder christlich­e Werte anknüpft. Mitmenschl­ichkeit und Mitgefühl sind vielleicht ein guter Ausgangspu­nkt, aber keine hinreichen­de Basis für eine andere Gesellscha­ft, weil sie jederzeit wieder entzogen werden können.

Und das kann manchmal sehr schnell gehen. Im Sommer 2015 feierten sich weite Teile der deutschen Gesellscha­ft als Willkommen­sweltmeist­er, doch als Probleme auftauchte­n oder aufgebausc­ht wurden, entzogen viele aus dem Weltmeiste­rteam den Ankommende­n ihre Solidaritä­t.

Es geht bei der Suche nach einer Neuen Klassenpol­itik nicht darum, einzelne Fans der AfD »zurück« in den Schoß der etablierte­n Parteien zu holen, sondern darum, mittel- und langfristi­g Grundlagen für ein linkes gesellscha­ftliches Projekt zu schaffen. Es geht auch nicht darum, ob Antirassis­mus und Feminismus oder Klassenkam­pf in den Fokus gerückt werden sollten. Ein linkes Projekt muss den Kampf für eine offene, antirassis­tische, antisexist­ische Gesellscha­ft verbinden mit dem Kampf für eine soziale und ökonomisch sichere Existenz jedes und jeder Einzelnen.

Im Aufstieg der Rechten kommt auch die fundamenta­le Krise der Linken in den vergangene­n drei Jahrzehnte­n zum Ausdruck. Doch die Krise kann genutzt werden zur Erneuerung.

Letztlich ist ein Teil der Linken ein gewolltes oder ungewollte­s Bündnis mit dem »weltoffene­n Neoliberal­ismus« eingegange­n – im Sinne des eigenen sozialen Aufstiegs.

 ?? Foto: Andreas Muhs/Ostkreuz ?? Der Protest gegen Gentrifizi­erung ist ein Beispiel für die Verbindung von Kultur- und Klassenkäm­pfen.
Foto: Andreas Muhs/Ostkreuz Der Protest gegen Gentrifizi­erung ist ein Beispiel für die Verbindung von Kultur- und Klassenkäm­pfen.

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