Ein Wort betasten: Heimat
»Medea« von Euripides am Vogtlandtheater Plauen-Zwickau und am Düsseldorfer Schauspielhaus
Nimm alle Schauspielerinnen zusammen, oder nur zwei, Jana Schulz und Else Hennig – sie ist nicht zu packen, sie erscheint auf jeder Bühne als das, was sie bleibt: ein Modellfall des Unbegreiflichen. Medea. Mutter. Mörderin. Monster. Mitleidgeschöpf. Mondäne. Megäre. Steht da wie ein zerknacktes Rückgrat. Oder gekrümmt wie Fleisch, das sich im Fegefeuer aufbiegt. Wie sie würgt am eigenen Klagen! Holt sich Wort für Wort auf die Zunge, um ein jedes mit den Zähnen zu reißen und uns entgegenzuspeien. Worte wie etwas blutiges Rohes. Schreie, dass selbst grausamste Folterinstrumente neidisch einander zuraunen würden: Hört nur, welch Quälmeister ist da am Werke?!
Ja, das ist Medea. Vom Ehemann Jason verstoßen, ermordet sie die beiden Kinder. Das Stück von Euripides, jetzt am Düsseldorfer Schauspielhaus, mit Jana Schulz, und am Vogtlandtheater Plauen-Zwickau, mit Else Hennig. Bei Schulz denke ich an Tollwut, bei Hennig an Tapferkeit. Theater in großer Stadt und Theater in kleiner Stadt – sofort schnappt die Schablone zu: dort die Ausnahme und da die Regel. Die Ausnahme gilt als bedeutend, die Regel als gering. Das stimmt genau so, wie es sehr falsch ist. Es gibt keine Provinz, oder aber alles ist Provinz. Ganz früher, im Lateinischen, bedeutete das Wort so viel wie: Kompetenz. Also: genaues Wissen um die Dinge im konkreten Zuständigkeitsbereich. Die Kompetenz an kleineren Theatern ist immer in besonderem Maße eine lobenswerte, lohnenswerte Fähigkeit des Aushaltens: im Konflikt zwischen Quote und Qualität, Opulenz und Einsparung. »Medea« in Sachsen: Schulstoff. Theater im Spagat: Bildung oder gestalterischer Eigensinn? Zugang schaffen mit Eingängigkeit oder Überforderung? Oder? Und!
Roland May in Plauen inszenierte in einem Zwischenraum. Flughafenkälte. Transitgrau unter Neonröhren (Bühne: Oliver Kostecka, Kostüme: Luisa Lange). Einmal erscheint auf der Quaderwand das projizierte Wort »Heimat« – der Chor betastet dies Wort, als seien Buchstaben schon der Geist. Dieser Chor der Korinther: vier Männer, zwei Frauen, darunter die Darsteller auch der anderen Gestalten des Stücks. Sonnenbrillen, Kopftücher – rasche Verwandlung, die ins Arabische, ins Völkchenbunte, ins streunend Voyeuristische wischt. Wenn Medea gemordet hat, öffnet sich die Bühne zu einer gekachelten Zelle: Blut, und vorn, im gaffenden Chor, reckt sich das dokumentierende I-Phone. Der Chor als Tableau von Touristen – deren einzige Dringlichkeit ist die Aufdringlichkeit. Volksmund, der alles Tragische im Gleichmut der Bewisperung ersäuft. Und über dem Schandort, darin Medea mit dem Messer hockt, erscheint ein Filmbild mit dem Fluchtgefährt, dem Sonnenwagen: Helikopter mit bereits angeworfenem Rotor. The Army now: der lange Arm des Göttlichen – tiefer als ins Militärische kann das Höhere nicht sinken.
Blut, das ist in Düsseldorf ein rotes Band in Medeas Händen. Der Chor rappt sich durch seine Kommentare, als fürchte er sich davor, einzugreifen: Der Mensch, der Einhalt gebieten will, ist immer der traurigste, weil vergeblichste Mensch, und wer will schon gern traurig sein. Regisseur Roger Vontobel (Bühne: Muriel Gerstner, Kostüm: Tina Kloempken) haut viel Schwärze ins Bild, um es dann in die Schlacht mit einem unbarmherzigen Gleißen zu schicken. Die Welt, das ist ein Haus, das hat Ecken, an denen man stehen und lugen kann. Ein Hauch von Abseits und Unbeteiligtsein – das es hier nicht gibt. Dies Haus: Eine Drehung des Ganzen, und du siehst rohe Kulisse, als öffne sich der Krater von Aleppo. Zumeist aber ist das Haus eine helle Front, da hockt das Elend. Also Medea, und die Kinder, und wieder Medea. Auch Jason hockt da. Ein Kuss beider, wie ein verschmierter Federstrich Frieden. Jana Schulz geht mit nacktem Oberkörper ins Haus, das Gleißen ihr nach. Und irgendwann schiebt sie das schwere Haus weg. Das ist Kraft, die fragt, wie schieb ich die Erde aus dem Weltall.
Jana Schulz in Düsseldorf, gekleidet königsgolden eng oder T-Shirtlässig oder Kapuzenpullover tragend, ist eine Schwitzende, Weinende, Kriegsstampfende. Rotz ist nicht Rotz, sondern Rumor. Vertierte Scheu und weidwunde Wucht – als gehe Kaspar Hauser bei Penthesilea in die Schule des Wahnsinns. Wenn diese so bestürzend großartige Tigerin am kecksten, am beiläufigsten, beinahe am lieblichsten ist, dann just an einer Stelle, an der man’s nicht glauben mag: Es ist bei der Verkündigung, sie werde ihre Söhne töten. Das »Ich kann nicht anders!« ist dann wieder ein Brüllen aus Untiefen.
Wenn sie unmittelbar vor dem Kindermord zwischen Ja oder Nein hin- und hergerissen tobt und winselt, die Söhne umarmt, wegstößt, sie erneut umarmt: atemberaubend. In diesem erschütternden Moment zeigt uns die Entartung, wie sie einen Menschenkörper, ein Herz besetzt, als sei das ein Siegerpodest. Die Kinder. Immer eine naturalistische Falle, wenn sie wirklich mitspielen. Vontobel, der Bildstarke, der Unheimlichkeitsregisseur tiefen dunklen Grades, er tappt hinein, und das Mitgefühl stottert wie ein Motor. Plauen ist da geschickter: Roland May lässt zwei der Erwachsenen aus dem Chor sich auf dem Boden aneinanderschmiegen. Das listige Prinzip: Als ob. Die Fantasie übernimmt, und du bist ergriffen. Der Mord selbst? In Plauen das Messer danach. In Düsseldorf eine zierliche Spieluhr: »Für Elise«. Musik, der mählich der Atem ausgeht.
Else Hennig in Plauen trägt Schwarz. Eine schwarze Witwe schon vor der Bluttat. Die Mundwinkel tief hinab in die Verachtung gezogen. Die Augen lidschattenverschmiert. Wie kleine Räder auf Schlammfahrt. Am liebsten (am liebsten?, welch Fremdwort hier) wollen die Räder wohl Panzerketten sein – Blicke können töten. Aber das Messer ersetzen sie nicht. Eine Göttin auf dem Boden der Tatsachen: sitzt schließlich an der Kachelwand wie in einem Eisloch, das sich langsam über ihr schließt; der kalte Hauch kommt von den letzten Worten einer nüchtern Triumphierenden. Was diese Frau durchlebt, hat sie immer schon hinter sich.
Von den anderen Gedrückten des Stücks jetzt nicht zu reden, ist gewiss ungerecht – aber alle Spieler wissen wohl allerorten um ihren Part im Banne des Zentralgestirns Medea. Jason etwa. Schauspielers Pflicht, diesen Verräter glaubhaft zu machen, als einen Gejagten des Standesgemäßen, als einen Rationalisten der hierarchischen Chancen. Die schmale Schulter des jämmerlich Biederen kann Großes nicht tragen – nur biedere Anzüge. Björn-Ole Blunck in Plauen, Torben Kessler in Düsseldorf. War Medea ihm der Klotz am Bein, ist er am Ende nur ein Glotz aus Pein. Blunck donnert seine Besinnungslosigkeit wummernd in ein Schlagzeug, in Düsseldorf dröhnt, zirpt, zieht, drängt die Gitarre von Keith O'Brien.
Sprache liefert in beiden Inszenierungen, in der Übersetzung von Peter Krumme, den schnoddrigen Tonfall für den zeitgenössischen Report einer Aussortierung: Der Mythos trägt unser westeuropäisches Festungsgesicht. Das macht beide Abende möglicherweise enger als nötig, trifft aber einen Kern: Wenn Medea, die Barbarin, »Zivilisation« sagen würde, wären zwölf Buchstaben schon zwölf Schüsse gegen den bitteren Zustand der Welt. Die Medea der Jana Schulz gibt sich der besinnungsraubenden Situation hin. Wo sie wild den Angriff weint, hat Else Hennig eine Röntgenkraft des Geistes, der nicht tobt, sondern schon wieder durchleuchtet.
Fazit: Keine Interpretationsanleihe beim handelsüblichen Bewältigungswortschatz hilft. Emanzipation? Würdetat der Barbarin? Frauenrecht? Ja. Nein. Das ist vor allem ideologischer Anstrengungsmüll, um uralte Tragödien auf unser routiniert sozialkämpferisches Niveau herunterzuzerren – nein, Euripides ist kein vorgeschalteter Flaggschreiber des derzeit immer maskuliner trommelnden Feminismus. Sitz doch einfach mal ergriffen und fassungslos vor den Möglichkeiten, die aus untröstlichen Lagen erwachsen können! Zweimal akutes Theater.
Nächste Vorstellungen: 9., 11. 4., 11. 5. (Plauen); 12., 21. 4, 7. 5. (Düsseldorf)