Die Sperren zur Leidenschaft niederreißen
Theaterhaus Jena: Nick Hartnagel inszenierte Kleists »Penthesilea«
Die Kleist-Tragödie in 24 Aufzügen ist unerhört bildkräftig und in den gezeigten Extremen dichterisch seinerzeit unerreicht. Deswegen fand sie Goethe befremdlich. Ihre Berichte kennen kein Halten. Schlachten finden in Versform statt: Athen gegen Troja und beider Heere wider das Amazonenheer der Penthesilea. Sie und Achill in Liebe entbrannt. Gefühlsstürme und tödliche Rachegelüste türmen sich und führen in die Katastrophe. Raumgreifend das Ritual des »Rosenfestes«, das gefangene Soldaten zwingt, den Amazonen Kinder zu machen, und die männlichen Babys dem Tode weiht. Jagdszenen blasen hinein mit Hunden, Pferden und Elefanten.
All das braucht die Jenaer Inszenierung unter dem 30-jährigen Nick Hartnagel freilich nicht. Die Bühne ist viel zu klein. Nicht mal die Helden Odysseus und Achill lassen sich sehen. Vielleicht nur Achill zuletzt, wenn er es denn ist, als Naivling mit Brille, als Kuriosum. Das Schwert schwingt er nicht, und für die Liebe ist er nicht prädestiniert. Hartnagel stilisiert, liebt die knappe, rasche Formung, knüpft lebendig Fragment an Fragment, setzt auf Überraschung, baut Fremdmaterial ein, hantiert mit Medien. Die Handkamera ist dabei, keinesfalls eingesetzt, weil das Mode ist, sondern sinnfällig (Terence Marowsky). Dazu Livemusik. Übrigens sehr gekonnt und funktionsgerecht eingesetzte (Lukas Lonski). Sechs Ak- teure genügen, um Auszügen des Dramas, verknüpft mit Deformationserscheinungen der Gegenwart, das abzugewinnen, was junge Leute interessieren könnte.
So erschreckend wie lapidar der Anfang. Der verrät nicht sogleich, wohin die Reise geht. Vier Frauen, hell geschürzt, sitzen in Reihe auf dem Sofa, wie beim Arzt. Die vier warten, sind nervös, blättern lustlos in Illustrierten, kein leibhaftig Wort fällt. Penthesilea mit Amazonen steckt sie in den vier Kleidern? Martialisches wie Brustschutz, Schwert oder Maschinenpistole fehlt. Plötzlich Männerstimmen. Enharmonisch entspringen sie den Mündern der Weiber. Aber das täuscht. Sie kommen aus dem Lautsprecher. Weib ist unversehens Mann, Mann Weib. Es ist raus: Penthesilea nebst Freundinnen vierfach verkörpert. Der Vorgang, an den Anfang gestellt, verblüfft. Neu ist die Technik nicht, hier wird sie aber virtuos zelebriert.
Ella Gaiser, Sophie Hutter, Klara Pfeiffer und Saskia Taeger spielen die vier, eine jede höchst sprech- und aktionsfreudig. Sie schlüpfen in Dutzende Rollen, schon rein logistisch und sprachlich eine Leistung. Alle sind sie mal die Königin, alle sind sie Amazonen, alle sind sie Betroffene des Lärms, des Wirtschaftsdrucks, des kapitalistisch produzierten Irrsinns der Gegenwart. Kleists Drama ist für sie eher Spielmaterial als zentraler Gegenstand. Bis zum Scheitel der Aufführung schlägt Dramatisches ständig in Episches um. Bert Brechts Lehrstück steht Modell.
Virulente Situationen, US-amerikanischen Serien wie »Mad Men« oder »Sex in the City« entnommen, kommen zum Sprechen, darin die Frau Rädchen ist, Animierdame, Objekt der Begierde. Deformationsprozesse legen die zügig ausgespielten Szenen klar, Manipulationstechniken, Zurichtungen der Frau im Alltag, im Sexleben, eines ohne jede Zärtlichkeit. Was in diesen Modellen an Identität, an Natürlichkeit, an menschlicher Substanz verlustig geht, drängt in den Szenen nach Kleist in die umgekehrte Richtung. Sexuelle Lust, mit Rachegefühlen dunkel durchmischt, ist die eine Seite. Die andere, dies Muster aufzubrechen.
Hartnagel hat das Material unter dem Gesichtspunkt der Frauenemanzipation montiert. Penthesilea als individuell fühlende, frei denkende und entscheidende Frau, die im Gesetz von Krieg und Eroberung nur Fesseln sieht. Einmal von den Giftpfeilen Amors getroffen, wirft Penthesilea das Naturrecht gegen die Götter und unterläuft die militanten, antierotischen Gesetze der Frauenkaste, die sie anführt. Hier sind die Frauenrollen am strengsten geteilt und im Ausdruck am intensivsten. Groß die Gesichter, die Augen, die Ängste auf den Videobildern, wahnhaft die Züge Penthesileas. Fortan ist sie gewalttätig nur noch gegen die eigene, schwer errungene Individualität. Das »Rosenfest« ist bei Kleist das Todesfest. Anders im Theaterhaus. Alle Sperren zur Leidenschaft sucht Penthesilea niederzureißen, wenn auch vergeblich. Menschliche Hände können dies ihr Begehren nicht bändigen. Und so treibt es die vier Frauen nicht ins Grab, sondern in die Höhe. Sie klettern Masten hoch, und, oben angelangt, ist das Stück auch schon zu Ende. Eine gut gemachte, temposcharfe, freie Komposition.
Nächste Vorstellungen: 12.4., 13.4.