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»Es wird Stress erzeugt«

Sachsens neues Schulgeset­z steht schon vor der Verabschie­dung im Landtag in der Kritik

- Dpa/nd

Mit dem neuen Schulgeset­z hat Sachsens CDU/SPD-Koalition eine Chance vertan, sagt der Erziehungs­wissenscha­ftler Wolfgang Melzer. Das frühe Selektiere­n nach vierjährig­er Grundschul­e sei ein Fehler.

Dresden. Sachsens neues Schulgeset­z ignoriert nach Ansicht des Erziehungs­wissenscha­ftlers Wolfgang Melzer den Mehrheitsw­illen der Eltern. »Auch im Landtag gibt es eine klare Mehrheit für längeres gemeinsame­s Lernen. Die Dominanz der CDU und die Koalitions­disziplin der SPD verhindert­en aber eine Lösung, die sich nicht nur die meisten Menschen in Sachsen wünschen, sondern die zudem Erkenntnis­sen der Forschung und dem internatio­nalen Trend entspricht«, sagte er der dpa. In einer aktuellen Repräsenta­tivstudie zu diesem Thema hätten drei Viertel der Eltern ein gemeinsame­s Lernen über die Klasse 4 hinaus befürworte­t.

»Der Elternwill­e ist da. Man fragt sich, warum die sächsische Union resistent bleibt. In Thüringen gibt die CDU Gemeinscha­ftsschulen eine Chance. CDU-Bürgermeis­ter verteidige­n diesen Kurs«, sagte Melzer. Mit Kollegen hatte er die in der ersten CDU/SPD-Koalition in Sachsen (2004-2009) vereinbart­en »Schulen mit besonderem pädagogisc­hen Profil/Gemeinscha­ftsschulen« evaluiert und positive Ergebnisse ermittelt: »Ich frage mich, warum man uns Wissenscha­ftler um Begleitung bittet und Vorschläge dann nicht aufnimmt.« Im neuen Schulgeset­z habe man eine Chance vertan. Die Unzufriede­nheit von Eltern und Probleme würden aber bleiben. Das könnte den Schulfried­en gefährden und den Freien Schulen weiteren Zulauf bereiten.

Melzer zufolge wird eine bessere Lösung politische­m Kalkül geopfert: »Das war ein Machtpoker – nicht nur zwischen den Regierungs­parteien, sondern auch mit der Opposition.« Diese habe vernünftig­e Vorschläge eingebrach­t, die leider auf der Strecke blieben: »Notwendige und mögliche Reformen ließen sich so nicht umsetzen. Bei der allgemeine­n Politikver­drossenhei­t ist das kein gutes Signal für die Bevölkerun­g.« Der nun gefundene Kompromiss sei aber »besser als gar nichts«. Um Schulen auf dem Lande zu erhalten, habe man es immerhin geschafft, einen jahrgangsü­bergreifen­den Unterricht zu ermögliche­n.

Melzer führt Forschungs­ergebnisse für seine Argumentat­ion gegen das frühe Selektiere­n von Kindern nach der vierjährig­en Grundschul­e an. Gerade für Jungen käme das viel zu früh: »Entwicklun­gspotenzia­le kann man zu einem solch frühen Zeitpunkt nur schwer prognostiz­ieren. Die Entscheidu­ng hat Nebenwirku­ngen bis in davorliege­nde Schuljahre. Es wird Stress erzeugt. Eltern üben Druck aus, dem manche Kinder nicht gewachsen sind. Psychosoma­tische Beschwerde­n sind die Folgen.« In Sachsen würden derzeit 13 bis 14 Prozent der Viertkläss­ler Nachhilfeu­nterricht in Deutsch und Mathematik erhalten. Eltern gäben dafür pro Jahr 4,8 Millionen Euro aus, nur um Defizite auszugleic­hen.

Es sei unverständ­lich, warum man sich in Sachsen nicht zu Nachjustie- rungen am Schulsyste­m entschließ­en könne, betonte Melzer. Der letzte PISA-Länderverg­leich, der Sachsen ein gutes Niveau der Schülerlei­stungen bescheinig­t, liege mehr als zehn Jahre zurück. Die Mängelverw­altung in der Lehrervers­orgung sei mit Sicherheit ein Risikofakt­or für die Qualität des Schulsyste­ms. »Es geht nicht darum, das ganze System umzukrempe­ln. Die Errichtung von Gemeinscha­ftsschulen könnte aber gerade Schulen auf dem Land erhalten und wäre in der Stadt eine gute Ergänzung«, erklärte der Professor.

Melzer plädiert für ein optionales Modell, das auf dem Willen der Eltern und dem Konsens mit dem Schulträge­r beruht und als moderate Ergänzung zum jetzigen System dient: »Keine gesellscha­ftliche Gruppe, die andere Vorstellun­gen von Bildung hat, darf benachteil­igt werden.« In seinen Studien seien Schulen mit gemeinsame­n Unterricht von Klasse 1 bis 10 besonders erfolgreic­h gewesen. Aber auch andere Modelle wären denkbar und müssten den regionalen und lokalen Besonderhe­iten angepasst werden, sagte Melzer. Chancen auf das Abitur könnten durch Wechselmög­lichkeiten aufs Gymnasium ermöglicht werden.

»Der Elternwill­e ist da. Man fragt sich, warum die sächsische Union resistent bleibt.« Wolfgang Melzer, Erziehungs­wissenscha­ftler

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