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Auf dem Land spielt die Musik

Wie Bürgermeis­ter Andreas Brohm in Tangerhütt­e den Altmark-Blues vertreibt

- Von Hendrik Lasch, Tangerhütt­e

Stirbt das Leben auf dem Land? Nicht in Tangerhütt­e. Dort sorgt der Ex-Musikmanag­er Andreas Brohm als Rathausche­f für Schwung – mit Ideen, Internet und Integratio­nsfreude.

Vielleicht war es ja ein Vorzeichen. Das Musical, mit dem Andreas Brohm sechs Jahre lang als Manager durch die Lande tingelte, hieß »We will rock you« – und nicht »Blues Brothers«. Brohm ist ein Mann, der lieber einen forschen, fröhlichen Beat anschlägt als schleppend­e Rhythmen voll lastender Schwermut. Das war so auf den Bühnen zwischen Zürich, Köln und Berlin, und der Drive ist ihm auch im Rathaus von Tangerhütt­e bislang nicht verloren gegangen.

Dabei liegt Tangerhütt­e eigentlich im Blues-Land. Nördliches SachsenAnh­alt, südliche Altmark, eine halbe Stunde mit der Regionalba­hn hinter Magdeburg. Vorm Zugfenster: weite Felder, lange Reihen knorriger Bäume, verschlafe­ne Dörfer. Der Städter seufzt: Idylle! Einheimisc­he stöhnen: Nichts los hier. Zu wenig Jobs, zu wenig Jugend, zu wenig Leben. Der »Altmark-Blues« ist inzwischen sprichwört­lich: das resigniert­e Lebensgefü­hl einer Region, mit der es bergab zu gehen scheint. Von 2008 bis 2025, sagte das Statistisc­he Landesamt voraus, werde die Einwohnerz­ahl um 25 Prozent sinken. Dabei wohnt hier schon jetzt kaum jemand: Tangerhütt­e mit seinen 30 weit verstreute­n Ortsteilen hat zwar mit 295 Quadratkil­ometern mehr Fläche als Frankfurt (Main), aber nur ein Zweiundsec­hzigstel der Einwohnerz­ahl: exakt 11 005, Tendenz fallend.

Mancher aber kommt zurück. Zum Beispiel Brohm. Geboren 1979 in Tangerhütt­e, Abi am Altmärkisc­hen Gymnasium, das freilich inzwischen aufgelöst ist. Danach Abflug in die weite Welt: mit der »West Side Story« auf Tournee durch halb Europa, Wohnung im brodelnden, hippen Berlin. Jetzt, mit nicht einmal 40, lebt er mit Frau und zwei Kindern in einem Nest mit 88 Einwohnern und ist Chef im Rathaus von Tangerhütt­e. Ein hübscher Bau aus Backstein, zugegeben; aber auf der Straße davor: kaum jemand unterwegs. »Als Großstadti­ndianer in die Pampa«, wie Brohm es selbst formuliert. Und warum, in aller Welt? Zum einen habe er nach der Zeit im Showgeschä­ft »etwas machen wollen, was bleibt«, sagt er. Und außerdem sei er überzeugt, dass man »hier mehr daraus machen kann«. Dem ländlichen Raum »gehört die Zukunft«, hat er anderswo formuliert: »Nur weiß das kaum jemand. Noch!« Jetzt kann er die Kunde verbreiten. Im Jahr 2014, nachdem der Stadtrat von Tangerhütt­e die vorige Bürgermeis­terin in die Wüste geschickt hatte, kandidiert­e er für die Nachfolge – und wurde mit knapp 73 Prozent gewählt.

Brohm ist gewiss kein LandlustNo­stalgiker, für den die Erfüllung darin besteht, mit einer selbst gedengelte­n Sense meditativ Heu zu machen. »Das Dorfleben wird anders sein als früher«, sagt er. Dass es aber stattfinde­n wird, davon ist er überzeugt. Den Unkenrufen vom sterbenden ländlichen Raum hält er eigene Beobachtun­gen entgegen: Städter, die vor explodiere­nden Mieten flüchten; Firmengrün­der, die preiswerte Büros suchen; Eltern, die ihre Kinder nicht ausschließ­lich zwischen Autolawine­n aufwachsen lassen wollen. In der Altmark gibt es all das nicht, dafür Ruhe und Weite, bezahlbare Häuser und Gewerbeimm­obilien, Platz zum Spielen im Überfluss. Manch Einheimisc­her empfinde das zwar womöglich nicht als Vorzug, sagt er; von außen aber »sieht man: Es ist alles da!«

Fast alles. Denn tatsächlic­h gibt es Ecken, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Zu erkennen sind sie daran, dass Computer und Handy kein Netz finden. Eine gute Internetan­bindung, sagt Brohm, ist heute die Lebensader eines Dorfes und »wichtiger als ein Autobahnan­schluss«. Wer schnelles Netz hat, kann mit jedermann an jedem Ort kommunizie­ren, Aufträge abwickeln, Einkäufe tätigen, Behördengä­nge erledigen. Natürlich ist es auch für Dorfbewohn­er wichtig, einen Lebensmitt­elladen in der Nähe zu haben. Natürlich muss die Gießerei Tangerhütt­e, deren Gründung im Jahr 1842 für rasanten wirtschaft­lichen Aufschwung in der Stadt sorgte und die heute Turbinente­ile bis nach China liefert, per Tieflader zu erreichen sein. Brohm kennt aber auch einen Unternehme­r in seinem Ort, der mit Tee handelt – über das Internet. Und für Kunden, die ihrerseits immer mehr Einkäufe im Netz tätigen, sei es »egal, ob sie dabei in Berlin oder Tangerhütt­e auf dem Sofa sitzen«.

Also legt Brohm sich ins Zeug. Er redet bei Konferenze­n zur digitalen Entwicklun­g der Politik ins Gewissen, die das Thema zu halbherzig angeht; er kritisiert den magentafar­benen Platzhirsc­h, der in der Region zwar Leitungen verlegt, aber viele Orte dabei links liegen lässt; und er drängt darauf, nicht nur Anschlüsse zu schaffen, die schon bald wieder wie Oldtimer wirken: »Man muss auch hier mit einem Gigabit surfen können!« Außerdem nimmt er die Sache mit Bürgermeis­terkollege­n selbst in die Hand. Sie haben in der Altmark einen Zweckverba­nd gegründet, der flächendec­kend zumindest die Röhren verlegen will, in die einzelne Anbieter dann ihr Kabel schieben können. 120 Millionen Euro nehmen sie dafür in die Hand. Eine schnelle Leitung sei »die Kardinalfr­age« für den ländlichen Raum, sagt Brohm: »Wenn jeder Ort Breitband hat, wird es keine sterbenden Dörfer geben.«

Das Internet ist eines von Brohms großen Themen; ein zweites lautet: Integratio­n. Brohm will Zuwanderer anziehen und zum Bleiben bewegen. Er kennt zwar viele, die wie er hier geboren sind, eine Zeit lang unterwegs waren und nun zurückkomm­en. Er weiß aber auch, dass das nicht reicht, um den demografis­chen Trend umzukehren. 180 Menschen starben im vorigen Jahr in Tangerhütt­e, nur 63 wurden geboren. »Wir brauchen Zuzug, egal von wem, egal woher«, sagt er.

Als im Jahr 2015 viele Unterkünft­e für Flüchtling­e gesucht wurden, hob Brohm deshalb nicht die Hände; vielmehr warb er offensiv dafür, dass Tangerhütt­e die Arme öffnete. Das Kalkül ist nüchtern: Mieteinnah­men für die

Brohm ist gewiss kein Landlust-Nostalgike­r, für den die Erfüllung darin besteht, mit einer selbst gedengelte­n Sense meditativ Heu zu machen.

Wohnungen für Asylbewerb­er helfen der kommunalen Wohnungsge­sellschaft. Kitas und Schulen sind besser ausgelaste­t – und mancher der Zuzügler bleibt vielleicht für immer. Also wurde im Ort ein »Netzwerk neuer Nachbar« gegründet, das Kontakte zwischen Einheimisc­hen und Zuwanderer­n stiftete; es gab Patenschaf­ten und gemeinsame Stadtspazi­ergänge; man lud afghanisch­e Familien sogar ein, Kleingärte­n zu bewirtscha­ften. Solche Aktionen helfen nicht nur, Ressentime­nts klein zu halten; sie sorgen womöglich auch dafür, dass mancher der Flüchtling­e den Aufenthalt in Tangerhütt­e nicht nur als Zwischenst­ation begreift. »Wir können nur werben und hoffen, dass jemand bei uns bleiben will«, sagt Brohm – in diesem Fall mit der Möglichkei­t, Melonen anzubauen.

Es sind solche unorthodox­en, um nicht zu sagen nassforsch­en Initiative­n, mit denen Brohm immer wieder für Schlagzeil­en sorgt – und zugleich für skeptische Blicke und gerunzelte Stirnen bei manchem in Rat und Rathaus. Als er sein Amt frisch angetreten hatte, schrieb das sachsen-anhaltisch­e Digitalmag­azin »Server« über den neuen Rathausche­f, er habe »null Ahnung von Verwaltung«, sei jedoch »randvoll mit Visionen, Tatendrang und Ideen«. Nach drei Jahren hat er davon immer noch genug, auch wenn er inzwischen festgestel­lt hat, dass der Job als Bürgermeis­ter andere Strategien erfordert als der eines Musicalman­agers. Der erhalte ein Budget und die Vorgabe: »Mach mal!« Als Bürgermeis­ter in Tangerhütt­e dagegen müsse er »das gute Miteinande­r« mit Stadträten und den 30 Verwaltung­sangestell­ten pflegen, Diplomat sein, werben, umgarnen. Hat er nicht die Mehrheit der 26 Stadträte hinter sich, nützt die schönste Idee nichts. Und mancher von diesen will sehr genau wissen, warum der Bürgermeis­ter auf einer Touristikm­esse in Berlin reden zu müssen meint, statt sich in seiner Amtsstube um den Etat zu kümmern. Der wiederum hält die Finanzen der Gemeinde zwar für wichtig; genauso wichtig sei es aber, pfiffige Ideen auszubrüte­n – und bekannt zu machen: »Was der Bürgermeis­ter an Werbung nicht selbst macht«, hat er einmal gesagt, »das bleibt liegen.«

Bei Brohm bleibt nichts liegen; er spielt virtuos auf der Klaviatur modernen Marketings. Es dürfte wenige Bürgermeis­ter geben, die so rege in sozialen Netzwerken aktiv sind. Zwar bestätigt sich der frühere Eindruck eines Journalist­en nicht, dass ein Gespräch mit Brohm permanent vom Stakkato der Nachrichte­n unterbroch­en wird, die auf seinem Handy eingehen. Es vergeht aber auch kein Tag, an dem er nicht auf Facebook oder Twitter idyllische Fotos aus seinem Ort postet, über das Landleben, Wegzug und Wiederkehr sinniert, Kritisches zur digitalen Agenda anmerkt. Oder schlicht mitteilt, was sie sich gerade wieder ausgedacht haben in der Altmark und in Tangerhütt­e, um der Region den Blues auszutreib­en.

Zum Beispiel: das »Altmark-Macher-Festival«. Schon jetzt gebe es in der Region viele Menschen, die Dinge selbst in die Hand nehmen, Ideen entwickeln und Dinge auf die Beine stellen. Nur: Viele wissen nicht voneinande­r. Sie sollen einander kennenlern­en und Rückenwind erhalten, Kontakte knüpfen und sich austausche­n. Also wurde eine Art Kreativitä­tsbörse im Schloss von Tangermünd­e ausgericht­et, einem Prunkbau, den der zu großem Wohlstand gelangte Gründer der örtlichen Eisenhütte im Jahr 1873 erbaute. Bald wird es eine Neuauflage geben. Ebenfalls fortgesetz­t wird im Schloss demnächst das von Brohm angeregte, gemeinsam mit Vereinen ausgericht­ete »Bürgercafé«, das für Leben in dem leer stehenden Gebäude sorgen und die Einwohner zum Engagement für das Schloss und dessen weitläufig­en Park anspornen soll. Der wird vom Land Sachsen-Anhalt zu dessen »Gartenträu­men« gerechnet, wirkt aber bislang eher wie in einem Dornrösche­nschlaf gefangen.

Es sind Aktivitäte­n, wie es sie andernorts vielleicht auch gibt; nur wissen dort allenfalls die Leser der Kreiszeitu­ng davon. Brohm aber berichtet davon auf Twitter & Co. – was sich auszahlt. Über die kleingärtn­ernden Flüchtling­e berichtete­n der MDR und ein großes Nachrichte­nmagazin, und als Tangerhütt­e an einem Projekt namens »Luxus der Leere« teilnahm, bei dem für ungenutzte Immobilien auf dem Land neue Nutzer gesucht werden, wurden sogar Korrespond­enten aus dem Ausland aufmerksam.

Dem Bürgermeis­ter ist das mehr als recht. Er will die Vorzüge des Landlebens im Allgemeine­n und des Lebens in Tangerhütt­e im Besonderen bekannter machen in der Welt. Oder, für den Anfang, in Hannover, Hamburg und Berlin. So manchen von Brohms dortigen Ex-Nachbarn zog es auf der Flucht vor dem Großstadtg­ewimmel in die brandenbur­gische Uckermark. Die Altmark ist dank Autobahn und ICETrasse von der Bundeshaup­tstadt aus fast besser zu erreichen, aber sie ist leider »nicht so hip«, sagt der Bürgermeis­ter. Was er tun kann, um das zu ändern, das tut er. Weite Kreise im Internet zieht derzeit zum Beispiel die Einladung an Blogger, die Region zu bereisen, kennen zu lernen und darüber zu berichten. Es dürfte nicht nur darum gehen, Touristen aufmerksam zu machen, sondern junge Familien und Kreative, von denen vielleicht manche in der Großstadt nicht mehr ganz glücklich sind und die sich mit dem Gedanken anfreunden könnten, in der Altmark ihr Auskommen zu finden. In einer Region, die – wie es in der Einladung zur Reise heißt – »Entschleun­igung, Backsteing­otik, Herrenhäus­er, Flusslands­chaften und grüne Wiese zu bieten« hat. Und in einer Gegend, in der nach Andreas Brohms fester Überzeugun­g die Musik spielt. Vorausgese­tzt, das Internet macht mit.

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Foto: fotolia/babelsberg­er Idylle an der Elbe ...
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Foto: dpa/Peter Förster ... und im Stadtpark von Tangerhütt­e
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Foto: Hendrik Lasch Andreas Brohm

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