Sei ein Mensch – zeichne auf, was ist!
Otto Griebels »Panoptikum seiner Zeit« in Dresden
Hier wird ein Füllhorn kleinerer und größerer Blätter ausgeschüttet. Scharfkantig und rüde Zugespitztes neben nett und freundlich Gegebenem – bis hin zu einer sehr nackten Erotik.
Was hat der Mann nicht alles gezeichnet! Nichts Menschliches blieb ihm fremd. Exaktes Wahrnehmen und akkurates Aufzeichnen der Realität waren eins. »Verismus« oder »Neue Sachlichkeit« nannte man später, was mit Beginn der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts an Streben nach Genauigkeit im Künstlerischen um sich griff. Wie leicht übersieht man jedoch, dass gerade bei einem wie Otto Griebel der Impuls eines Mitgefühls alles bestimmte: Die dazu verurteilt waren, auf der Schattenseite der Gesellschaft zu leben, für die nahm er radikal Partei. Er war bereit, mit ihnen zu leiden und zu kämpfen. Und scheute sich nicht, dass auch mit dem Parteibuch der Kommunisten zu tun.
Aus Sicht des weitgehend vom modisch eingefärbten Zeitgeist beeinflussten Publikums von heute ist das im Grunde alles sehr von gestern. Um aktuelle soziale Konflikte macht die Künstlerschaft heute im Prinzip einen großen Bogen. Die Richtung ist nun mal diskriminiert. Schließlich mündete diese Welle extrem kritischer Ausdrucksweise von damals geradewegs in den übel beleumundeten »sozialistischen Realismus«. Wenn man genau hinguckt, hält Griebel mit Varianten seines Schaffens aber Auswege offen: Überraschend surrealistisch abstrahierend ist er kaum wiederzuerkennen. Am schockierendsten verstand er seinerzeit zu provozieren, wenn die vermeintliche Bild-Blödelei »Dada« dabei herauskam. Was Wunder, wenn ohnehin überall die spezielle Art von bissigem Humor a la Griebel versteckt ist. Leicht karikierend, Hässliches ungehemmt markierend, stellt seine ordnende Hand etwas her, wovon man heute tatsächlich eine Art »Panoptikum der Zeit« ablesen kann.
So heißt denn auch die von der Städtischen Galerie Dresden ausgerichtete Ausstellung des heute noch erreichbaren Teils seines Lebenswerkes. Der eigene Museumsbestand wurde durch Leihgaben aus Museen und aus deutschem, tschechischem und schweizerischem Privatbesitz aufgefüllt. Ein dickleibiges Buch mit dem kompletten Werkverzeichnis er- gänzt das Ganze so prachtvoll, dass man sagen kann: Das ist der ganze Griebel. Doch was heißt bei ihm schon »ganz«? Man hat seine liebe Mühe mit ihm, will man ein in sich schlüssiges OEuvre zeigen. Das ist nicht nur eine quantitative Frage. Nun sind so viele Abbildungen komplett beisammen. Im Buch sind selbst die verloren gegangenen oder durch Kriegseinwirkung verbrannten optisch präsent. Was hilft es? Es bleibt ein Torso. Ein Puzzle, akribisch von Johannes Schmidt als Kurator zusammengesetzt. Da gab es unzählige Studienblätter und Entwürfe selbst zu Bildern, die nie gemalt wurden.
So wird letzten Endes eine spannende Affäre daraus. Wenn wir bereit sind, uns von der oft beschworenen qualitativen Nähe Griebels zu Otto Dix und George Grosz zu verab- schieden und uns in diesem Puzzle zu tummeln, haben wir mehr davon. Wir erkennen: Dix’ grandiose Bildkompositionen waren weitaus umfassender. Grosz’ ätzend scharfe, medial weitverbreitete Satire war einmalig in Leistung und Wirkung. Griebel fasst Kriegserlebnisse anders. Die Kämpfenden sind meist schlicht menschlich empfunden. Wo er satirisch wird, bleibt er konkret am Anlass. Als aquarellierender Zeichner wagt er den Schritt zur Druckgrafik nur äußerst selten. Die Überschau dieser stark vom Werkverzeichnis her inspirierten Ausstellung wirkt wie ein einziger Werkstattbericht. Nur wenige Bilder waren ausgereift bis zum Letzten. »Die Internationale« gehörte dazu, und »Der Arbeitslose« oder »Der Schiffsheizer« ebenfalls. Ein ganz seltenes Beispiel nachdenklicher Selbstbildniskunst bot er im Mai 1945 zu seinem 50. Geburtstag mit dem rot brennenden Dresden im Hintergrund.
Wie wichtig schien ihm die Detailerkundung von menschlichem Gesicht und menschlicher Gestalt! Den weiblichen Akt gibt er in feinster Vollendung. Kurios immerhin, wie das anklagende Moment des »Seht doch, wie würdelos müssen diese Nutten leben« konterkariert wird von der männlichen Anbetung ihrer Reize. Der zeitlebens treu zu Eheweib Grete hielt – er durfte eben künstlerisch zig Seitenblicke riskieren. Diese Stimmung wirkt extra auf ein Publikum, das an den mit kostenlosem Eintritt winkenden Freitagen besonders zahlreich erscheint. Sie verdankt sich dem ausschwärmend erkundenden Temperament dieses Malers. »Ich war ein Mann der Straße« nannte er 1986 sein Erinnerungsbuch nicht zufällig. Er war eben kein Mann des Ateliers. Seine Beziehung zu befreundeten Malerkollegen, seine ganz konkreten politischen Akti- vitäten, sein von ausgeprägtem Familiensinn geprägtes häusliches Milieu sowie seine immense Leidenschaft, mit von eigener Hand geschaffenen Figuren Puppenspieler zu sein, all das war ihm wichtiger als letzte künstlerische Vollendung.
Ich selbst habe ihn 1948 bis 1950 in den zwei letzten Jahren bis zum Abitur an der Dresdner Kreuzschule als brillanten Verkünder tiefer Kunstund Lebensweisheit kennengelernt. Er versuchte gar nicht, mir als ständig Karikierendem das von ihm so geschätzte korrekte Zeichnen beizubringen. Nein, viel wichtiger war ihm, all den noch unfertigen, von Hause aus recht konventionell geprägten Bürgersöhnchen einen elementaren Kunstsinn zu vermitteln – und das mit Exkursionen ins Dresdner Kunsterbe wie mit vielen heiteren Anspielungen bis weit ins Politische. An der von ihm verantworteten Schulwandzeitung machte er mich zum schreibenden Kunstkritiker. Traurig genug, dass in den zur Ausstellung veröffentlichten Texten dieses immerhin vierjährige gymnasiale Engagement keine Erwähnung findet. Schlimm genug, dass in dem gerade erschienenen Buch »Wie keine andere – Die Dresdner Kreuzschule in der DDR« nur ein Szenario fürchterlicher Repression beschworen wird. Offenbar hatte er für die Schüler vor tauben Ohren gepredigt, die nun im Alter diese Lesart des Schreckens initiieren.
Dem Vorwurf des »Sozialistischen Realismus« setzt diese Schau die surrealistischen Varianten von Griebels Schaffen entgegen. »Ich denke, dass das Universum spontan aus dem Nichts entstand gemäß den Gesetzen der Physik.« Stephen Hawking
Otto Griebel wurde 1895 in Meerane geboren und war von 1911 bis zu seinem Tod 1972 ununterbrochen in Dresden beheimatet. Nach Ausbildung und Studium bis 1933 war er als Maler und Grafiker tätig. Nach 1945 kunsterzieherische Tätigkeit, als Künstler Rückzug ins Privatleben.
Die Ausstellung ist noch bis zum 7. Mai in der Städtischen Galerie Dresden zu sehen.