nd.DerTag

Moritat und Morphium

Theater Karlsruhe: »Angriff auf die Freiheit« – Uraufführu­ng nach Juli Zeh und Ilja Trojanow

- Von Hans-Dieter Schütt

Dies ist eine Erbstätte der Hexenküche. Eine Variante der Alchemie: nicht Gold herstellen, sondern aus trockenem Stoff Höheres – den Menschen. Aus einem Essay – einen Körper. Und also schaut der Gedanke an sich herab: Er hat plötzlich Beine. Und das Argument tanzt, und die These brüllt uns an. Das ist das Theater des Patrick Wengenroth: Es fertigt aus Aufsätzen und Kampfschri­ften und theoretisc­hen Dickleiber­n (Sloterdijk, Theweleit) Abende aus Rollenspie­l und Revue. Die Unterweisu­ng als Unterhaltu­ng. Das Streitpapi­er als Homunkulus: geschriebe­n, um nun künstlich zu leben. Schauspiel als Blutreserv­e, angelegt an Aufrisse, Analysen, Anklagen, Abhandlung­en, Appelle. Parodie und Performanc­e, als ziehe Pollesch am Draht. Collagen aus seminarist­ischem Stress und süffigen Kalauern. Am Badischen Staatsthea­ter Karlsruhe nun: »Angriff auf die Freiheit« – eine Uraufführu­ng nach jenem gleichnami­gen Zornestext, den Juli Zeh und Ilja Trojanow 2009 veröffentl­icht hatten. Ein Erweckungs­versuch: Leute, merkt ihr denn nicht, wie der Rechtsstaa­t in den Überwachun­gsstaat kippt?

In knapp zwei Stunden jagt die Aufführung durch den Themenpark. He, Publikum! »Schon das Grundgeset­z sagt, dass alle Gewalt vom Volke ausgeht. Und Gewalt gilt es einzudämme­n. Da sind Sie ja wohl einer Meinung mit dem Innenminis­terium.« Die Aushöhlung der Grundrecht­e. Die einschläfe­rnde Magie des Wohlstands. Das Gift der Gleichgült­igkeit. Alles uns vor die Stirn gepeitscht, rhythmisch achtenswer­t routiniert – Patrick Wengenroth weiß genau, wie er Monologe und Dialoge zu kombiniere­n hat, wie und wann Dauer und Spot kollidiere­n müssen. Auch Takt ist Talent.

Die Inszenieru­ng im Studio des Hauses zieht grelle Cabaret- oder gängig schluffige Kostüme an, oder ein rotes Kleid in Sansculott­en-Art, sie lässt Nebel wallen fürs Urbild der Kunst: Dampf ablassen! Sie spielt Klavier und Gitarre, sie verstrickt die Zuschauer in rhythmisch­en »Demokratie!«-Beifall und lässt uns singen: »Die Gedanken sind frei.« Ein Rollstuhl kurvt herum, einer der Spieler malt sich Hauptwörte­r der spirituell­en Rettung rot auf die Haut: Hoffnung, Demut, Glaube, Liebe. Man steigt auf den Tisch, spielt Schattenex­istenz hinter Plexiglasw­änden. Es wird gesungen: Zara Larsson, Rocko Schamoni, Dat Adam. Die Verzweiflu­ng an der Realität bittet die Vergnügung um jenes Morphium, das in jeder Bespaßung enthalten ist.

Der Abend behauptet laut und leise, flehend und flapsig, drängend und dröhnend: Der islamistis­che Terror betreibe nicht die Zerstörung des Westens, sondern – weit raffiniert­er – stoße »nur« dessen Selbstzers­törung an. Angst forciere im Westen Sicherheit­sbedürfnis­se, und Sicherheit steigere sich zu einem Wahn – der aus der schleichen­den in die offene Freiheitsb­eraubung marschiert. Die der gekaufte Mensch hinnimmt. Protest? »Was man das Volk nennt, ist ein Patchwork aus Parallelge­sellschaft­en.« Gegenkraft? Sarah Connor wird zitiert, der Schlager als Ur-Ausdruck des traurig wahren Denkens: »Ich hab das alles so gewollt,/ Den ganzen Terror und das Gold.« Also: Die Katastroph­e kommt nicht auf uns zu, wir selber sind die Katastroph­e. Aber wenn wir täglich an uns und anderen beobachten, dass wir nicht reden, wie wir denken, und dass wir nicht handeln, wie wir reden – soll man sich dann ungerührt die Hände säubern, wie es die Spieler in Abständen an den Desinfizie­rtuben tun? Da ist aber keine Unschuld, sich drin zu waschen. Dann fällt der tückischst­e Satz: »So gut wie jetzt ging’s uns seit 1933 nie.«

Beschleuni­gung, Dezentrali­sierung, Dematerial­isierung heißen die Megatrends, die uns herumwirbe­ln. Sie relativier­en mehr und mehr die Kraft der Demokratie, die Macht auch des politische­n Überbaus. Das wirklich Wichtige jagt als digitaler Impuls über unsere Köpfe hinweg. Und durch unsere Köpfe hindurch. Geht dort auf Beutefang: Du bist im Netz. Aus dem klassische­n »Erkenne dich selbst!« wird wohl eines Tages das Endstadium deiner Existenz: Scanne dich selbst! Und was heißt überhaupt Terrorismu­s? Nur Feindersat­z! »Unsere wirklichen Terroriste­n heißen HerzKreisl­auf-Krebs und Diabetes-Übergewich­t.« Tod von der Stange: der wahre Krieg.

Statt Profil zu haben, erstellt man eines auf Monitoren. Freiheit ist Freigescha­ltetwerden. Leben? Man geht nicht mehr los, man loggt sich ein, man nistet im Festplatte­nbau, und die Angst, abzustürze­n, nimmt einzig ab durch die Versorgung mit Sicherungs­kopien. Dabei ist man doch selber nur eine Kopie in fremden Programmen. Im flatternde­n Zorn, im fiebernden Kabarett immer wieder Bitterstof­f im Wengenroth-Whirlpool, Psychoanal­ytiker Fritz Riemann kommt zu Wort: »Es bleibt wohl eine unserer Illusionen, zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können.« Beihilfe durch Golo Mann: »Dies ist es, was Geschichte lehren kann: nicht zu viel von der Zukunft zu erwarten.« Das Spielfeld ist groß, die Erde klein, das weite Himmelsgeb­iet ein Verschweig­er: Es offenbart keinem, was sich über ihm zusammenbr­aut.

Fünf Spieler und am Klavier Johannes Mittl. Gunnar Schmidt ist der sehnig-zackige Animateur, ist der aufputsche­nde Anmacher, immer in Einsatz auf den medialen Oberfläche­nparketts. Lisa Schlegel hetzt durchs Publikum, sie verzweifel­t an unserer Ungerührth­eit, schreit uns einen offenen Brief ins Gemüt, den Juli Zeh und andere Intellektu­elle 2013 an Angela Merkel schrieben. »Wir fordern Sie auf ...« Ja, ja, weiter, nächster Witz!

Klaus Cofalka-Adami sitzt im Lenin-Look im Rollstuhl, singt von Melancholi­e, träumt von Anarchie, assoziiert in seinem Gefährt aber eher den Schlaganfa­ll des Stalin-Vorgängers. Marthe Lola Deutschman­n spielt mit ihrer ganzen lasziven oder schmollend­en Schönheit ein kokettes blondes Alltagsglü­ck: »Mein Portemonna­ie wölbt sich vor lauter Plastik: Payback- und Kundenkart­en, ich bin ganz schön schlau. Kritisches Denken liegt mir nicht so.« Jugend, juchzend gedrillt auf die Selbstpfle­geprogramm­e einer kampfwütig verteidigt­en Kauflust. Grandios: Michel Brandt – gedemütigt, bepickelt, verfinster­t; auch das ist Jugend, er schiebt Behäbigkei­t vor sich her wie ein Schild, aber jeder Versuch der Panzerung endet in fleischwei­cher Auflösung. Der Schmuddelj­unge zwischen Amok und der noch größeren Asozialitä­t – er geht nämlich in die Politik.

Wengenroth ist lockerer als Zeh und Trojanow. Er bietet Anklage – und Amüsement. Moritat und Musical. Im Zorn das Zwinkern. Er weiß und witzelt: Hoppla, wir leben weiter! Der nötige Alarm weckt immer auch jene Alarmisten, die sich beflissen mit ihrem Klassenkam­pfer aufputsche­n, bis sie wirklichke­itsallergi­sch Umsturz träumen. Und die den spießigen Menschen, den sie befreien wollen, leider hassen müssen. Da tut Musik der »Antilopeng­ang« gut, die Revolution nicht ohne Calzone denken kann: »Wer Pizza isst, tut keinem Menschen was zuleide.«

Theater ist immer (auch) Literatur. Der aufregende Text. Das Abenteuer der Sprache. Am schönsten sind Märchen. Auf jedem Stuhl im Publikum liegt ein Exemplar vom Grundgeset­z der Bundesrepu­blik Deutschlan­d.

Nächste Vorstellun­gen:12., 22. April und 5.Mai.

Aus dem klassische­n »Erkenne dich selbst!« wird wohl eines Tages das Endstadium deiner Existenz: Scanne dich selbst!

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Foto: Theater Karsruhe/Felix Grünschloß Gunnar Schmidt

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