nd.DerTag

Unfreiwill­ig verfrachte­t

In Ost und West, an Schulen und in Firmen kämpfen Menschen gegen Massenabsc­hiebungen

- Von Tim Zülch

Seit Dezember gehören »Sammelrück­führungen« nach Afghanista­n zur traurigen Realität in Deutschlan­d. In vielen Ortschafte­n protestier­en Bürger dagegen.

Ende März hat die vierte Sammelabsc­hiebung nach Afghanista­n stattgefun­den. 15 Menschen waren in dem Flugzeug, das vom Münchner Flughafen Richtung Kabul abhob. Bundesweit gab es Proteste, doch die Zahl der Teilnehmen­den war klein – kleiner als bei den Sammelabsc­hiebungen zuvor. In Berlin standen knapp 50 Protestier­er vor dem Bundesamt für Flüchtling­e und Migration, auf dem Münchner Flughafen waren es 250 und vor dem Abschiebeg­efängnis in Mühlheim 400 Menschen. In Leipzig nahmen bei einer Demonstrat­ion, die Geflüchtet­e selbst organisier­t hatten, immerhin 500 Personen teil.

Täglich werden mittlerwei­le Dutzende Familien auseinande­rgerissen und Menschen ihrer Hoffnung beraubt, indem sie mit Gewalt in ein Flugzeug verfrachte­t werden und an einem – ihnen bisweilen unbekannte­n – Ort wieder aussteigen müssen, der ihre Heimat sein soll. Rund 25 375 Personen wurden im vergangene­n Jahr abgeschobe­n. Das geht aus einer Antwort der Bundesregi­erung auf eine Anfrage der Linksfrakt­ion hervor. Das sind 21 Prozent mehr als im Jahr zuvor. 2014 wurden nach dieser Statistik 10 844 Menschen abgeschobe­n.

Doch es werden nicht nur immer mehr Menschen abgeschobe­n. Der Eindruck, dass Abschiebeh­emmnisse bei Geflüchtet­en immer weniger zählen, verfestigt sich bei vielen Engagierte­n. Mit großer Härte würden Abschiebun­gen mittlerwei­le in Sachsen durchgezog­en, berichtet Thomas Hoffmann, Mitarbeite­r des sächsische­n Flüchtling­srats. »Die Einzelfäll­e, die wir dokumentie­ren konnten, spiegeln in ihrer Qualität eine Brutalität wider, die uns entsetzt zurückläss­t«, sagt Hoffmann. Es scheint ihm gar, als wolle Sachsens Ministerpr­äsident Stanislaw Tillich sich mit Blick auf die AfD als »Klassenpri­mus« unter den Bundesländ­ern profiliere­n.

Der sächsische Flüchtling­srat hat mehrere Fälle dokumentie­rt, in denen Familien bei der Abschiebun­g getrennt oder Hochschwan­gere abgeschobe­n wurden. Ende Februar erst wurde ein Vater mit drei Kindern in den Kosovo deportiert, während die Mutter, die aufgrund einer Krankheit einen Abschiebes­chutz hatte, von ihrer Familie getrennt wurde.

Trotz der schwierige­n gesellscha­ftlichen und politische­n Lage gab es in Sachsen im Dezember in Dresden und Ende März in Leipzig relativ große Mobilisier­ungen. Beide Demos wurden maßgeblich von der afghanisch­en Community mitorganis­iert. Thomas Hoffmann hofft, dass sich vor allem durch die Abschiebun­gen in das

Thomas Hoffmann, Flüchtling­srat Sachsen

Bürgerkrie­gsland Afghanista­n noch mehr Menschen »aus dem Dornrösche­nschlaf reißen lassen«.

Dass viele Menschen empört sind über die momentane Abschiebep­olitik, stellt Julia Gorlt fest. Sie koordinier­t beim nordrhein-westfälisc­hen Flüchtling­srat eine neu gegründete Gruppe, die sich »Arbeitsgem­einschaft gegen Abschiebun­gen« nennt. Es gebe immer mehr Menschen, die anrufen und sich engagieren wollen, weil Bekannte abgeschobe­n werden, sagt sie. Zum Gründungst­reffen der Arbeitsgem­einschaft Mitte Februar seien rund 50 Personen gekommen. Ihr Eindruck sei, dass Menschen, die bisher eher humanitär für Flüchtling­e tätig gewesen seien, sich zunehmend politisier­en. »Es sind sehr viele, die nicht locker lassen«, sagt sie.

Eine riesige Resonanz erzielten Schüler aus Cottbus, die sich für drei von Abschiebun­g bedrohte Mitschüler einsetzten. Ihre Onlinepeti­tion brachte es auf über 70 000 Unterstütz­er. Fernsehen, Radio und Zeitungen berichtete­n. Die Schüler schreiben in der Petition: »Wir sind Schüler/innen aus der Oberstufe der Freien Waldorfsch­ule Cottbus und setzen uns GEMEINSAM für unsere Mitschüler ein, die ein großer Teil unserer Schulgemei­nschaft geworden sind und die wir nicht einfach so wieder gehen lassen!«

Auch Unternehme­n bekommen mittlerwei­le die Auswirkung­en der Abschiebun­gen zu spüren. Seit Monaten setzt sich die mittelstän­dische Firma Strasser Bau aus Oberbayern für ihren Mitarbeite­r Tavus Qurban ein. Er arbeitet seit 2012 in dem Unternehme­n, erhielt aber plötzlich keine Arbeitsgen­ehmigung mehr. Seine Abschiebun­g drohte. Die Firma legte einen Protesttag ein und startete eine Facebook-Kampagne. Firmenchef Stefan Birnbacher: »Momentan sind wir in großer Sorge. Wir hoffen auf die zumindest monatliche Verlängeru­ng der Arbeitserl­aubnis.«

Die Eichstätte­r Bauunterne­hmerin Beate Meier will nicht hinnehmen, dass ihr Mitarbeite­r Badingdin Jaiteh aus Ghana abgeschobe­n wird – sein Asylantrag wurde abgelehnt. Sie organisier­te Runde Tische, schrieb Briefe an Politiker und Medien. In den folgenden zwei Wochen meldeten sich rund 60 baden-württember­gische Firmen mit ähnlichen Problemen bei ihr. Darunter das Nobelresta­urant Schwarzer Adler am Kaiserstuh­l und der Sportartik­elherstell­er VauDe mit Sitz in Tettnang am Bodensee. Einem Artikel in der »Badischen Zeitung« zufolge nennt sie es »Irrsinn«, dass einer, der anpackt und sich einbringt, nicht hierbleibe­n dürfe, zumal wenn er Arbeit übernehme, für die sich jahrelang niemand beworben habe.

»Die Einzelfäll­e, die wir dokumentie­ren konnten, spiegeln in ihrer Qualität eine Brutalität wider, die uns entsetzt zurückläss­t.«

 ?? Foto: dpa/Patrick Seeger ?? Sammelabsc­hiebung in Baden-Württember­g 2015
Foto: dpa/Patrick Seeger Sammelabsc­hiebung in Baden-Württember­g 2015

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