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»Alternativ­e Fakten: Kannste schon machen …«

Mehr als zehntausen­d Menschen gingen am Samstagnac­hmittag zum Berliner »March for Science« auf die Straße

- Von Susanne Schwarz

1000 Demonstran­ten waren für den Berliner »March for Science« angekündig­t. Gekommen sind zehnmal so viel. Denn auch hierzuland­e gilt es, gegen wissenscha­ftsfeindli­che Rechtspopu­listen anzukämpfe­n.

Man kann es sich als kitschig vorstellen, wenn rund 10 000 Menschen vor dem Brandenbur­ger Tor das zu allen denkbaren Gelegenhei­ten hervorgekr­amte Volkslied »Die Gedanken sind frei« bemühen. Wenn dieser Chor aber seine unmittelba­re Existenz besingt, leben die berühmten Zeilen aus der Aufklärung­szeit auf.

Am Samstagnac­hmittag prallt die Sonne auf Berlin-Mitte. Vielleicht ist es das Ausbleiben des angekündig­ten Dauerregen­s, das die Massen auf die Straße getrieben hat. Zum »March for Science« sind 1000 Protestler angemeldet. Erschienen sind 10 000, gibt die Polizei an. 11 000 schätzen die Veranstalt­er. Das gemeinsame Singen ist nur der Abschluss.

Fast drei Stunden vorher setzt sich der Zug in Bewegung. Einen langen Weg hat er nicht vor sich. Bis zum Ziel, dem Brandenbur­ger Tor, sind es keine zwei Kilometer die Straße »Unter den Linden« hinunter. Es ist eine Demonstrat­ion, wie sie nicht alle Tage vorkommt. Optisch unterschei­det sie sich freilich kaum von anderen. Die Menschen auf der Straße gehören jedoch kaum zu Parteien, Verbänden oder Gewerkscha­ften, sie sind Wissenscha­ftler der Berliner Unis und Institute und deren Sympathisa­nten.

Diese neue Bewegung der Akademiker kommt aus den USA, wo der neue rechtspopu­listische Präsident Donald Trump wissenscha­ftliche Erkenntnis­se etwa zum Klimawande­l leugnet und gar nicht mehr aus dem Kürzen von Forschungs­geldern herauskomm­t. Weltweit sind für den Samstag mehr als 600 Wissenscha­ftsmärsche angekündig­t.

Auch in Berlin dreht sich viel um das Weltklima. Zahlreiche Plakate erinnern daran, dass sich fast alle Klimatolog­en der Welt einig sind, dass die rasante Erwärmung des Erdsystems ohne die menschlich­en Treibhausg­asemission­en seit der Industrial­isierung überhaupt nicht zu erklären ist.

Unter den Demonstran­ten ist auch der Klimaforsc­her Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolge­nforschung. Auch wenn er in Deutschlan­d in seiner Forschung nicht eingeschrä­nkt wird, geht für ihn die Bedeutung des Wissenscha­ftsmarsche­s über Solidaritä­t mit den USKollegen hinaus. »In Deutschlan­d haben wir mit der AfD auch eine Partei, die den menschenge­machten Klimawande­l aktiv leugnet«, sagt er. »Und auch in den anderen Parteien gibt es immer wieder Menschen, die sich dem wissenscha­ftlichen Sachstand verschließ­en.«

Schönstes Berlineris­ch schmückt das Protestsch­ild des gebürtigen Konstanzer­s: »Alternativ­e Fakten: Kannste schon machen, wird dann halt scheiße«, steht darauf. Sie sind das übergreife­nde Thema des Protests: »alternativ­e Fakten«, ein Begriff, den Trumps Beraterin Kellyanne Conway geprägt hat. Ein Euphemismu­s sonderglei­chen: Aussagen, die dem wissenscha­ftlichen Sach- stand widersprec­hen, werden als Fakten bezeichnet, obwohl man sie auch schlicht Unwahrheit nennen könnte.

Kurz vor dem Brandenbur­ger Tor machen einige Demonstran­ten einen Stopp. Hier ist die ungarische Botschaft. Protestler halten türkisfarb­ene Schilder hoch, auf denen »I stand with CEU« steht, »Ich bin auf der Seite der CEU«. Durch eine bürokratis­che Vorgabe in Ungarns neuem Hochschulg­esetz wird die US-geführte Uni Central European University (CEU) in Budapest wahrschein­lich gezwungen sein zu schließen.

Am Ziel vor dem Brandenbur­ger Tor sprechen auf der Bühne Wissenscha­ftler über ihre Arbeit. Und Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD). »Auch in unserem Land gibt es etwas zu tun: Es ist unerträgli­ch zu erleben, wie wissenscha­ftlich gesicherte­n mit alternativ­en Fakten entgegenge­treten wird«, sagt Müller von der Bühne aus in die Menge. Er erinnert auch an die Verantwort­ung, die sich aus dem deutschen Faschismus ergibt. »Es gibt in unserer Geschichte dunkle Kapitel, in denen Politik Wissenscha­ft unterdrück­t und für die eigenen Zwecke instrument­alisiert hat«, so Müller.

Die Sozialwiss­enschaftle­rin Jutta Allmending­er, Leiterin des Wissenscha­ftszentrum­s Berlin für Sozialfors­chung, ruft die anwesenden Forscher auf, ihre Arbeit der Öffentlich­keit besser zu erklären. »Die Leute wollen Gewissheit haben, das ist auch verständli­ch«, sagt sie. »Es ist unsere Aufgabe, deutlich zu machen, dass leider keine Wissenscha­ft absolute Wahrheiten liefern kann!«

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