Rastloses Begehren des »leeren Selbst«
Stellvertreter unserer Sehnsüchte: Die Konsumkultur erhält sich dadurch am Leben, dass sie so erfolgreich versagt
Dinge sind aber nicht einfach nur Dinge. Die Rolle, die Verbrauchsgüter in unserem Leben spielen, geht weit über ihren materiellen Gebrauchswert hinaus. Und das hat Folgen.
Das Verlangen nach Neuem ist (wenig überraschend) aufs Engste mit der symbolischen Rolle verbunden, die Konsumgüter in unserem Leben spielen. Wie bereits gesagt, erschaffen materielle Artefakte eine machtvolle »Sprache der Güter«, mittels derer wir untereinander kommunizieren – nicht nur über gesellschaftlichen Status, sondern auch über Identität, gesellschaftliche Zugehörigkeit und sogar – indem wir zum Beispiel Geschenke machen und erhalten – über die Gefühle, die wir füreinander hegen; darüber, was wir für die Familie erhoffen und wie unser Traum vom guten Leben aussieht.
Damit soll nicht abgestritten werden, dass materielle Güter für die elementaren materiellen Bedürfnisse unerlässlich sind: Nahrung, Obdach, Schutz. Ganz im Gegenteil: In dieser Funktion bestimmen sie sogar entscheidend unser physisches Wohlergehen: Gesundheit, Lebenserwartung, Vitalität.
Dinge sind aber nicht einfach nur Dinge. Die Rolle, die Verbrauchsgüter in unserem Leben spielen, geht weit über ihren materiellen Gebrauchswert hinaus. Durch die Güter werden materielle Prozesse und soziale Bedürfnisse im Innersten miteinander verknüpft. Materielle Dinge erleichtern uns die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Sofern sie dies leisten, tragen sie zu unserem Wohlstand bei.
Ein grundlegender psychologischer Vorgang, der hier greift, ist das, was der Konsumforscher Russ Belk »Objektbesetzung« (cathexis) nennt: ein Bindungsvorgang, der uns dazu bringt, materiellen Besitz als Teil des »erweiterten Selbst« zu sehen (und sogar zu empfinden).
Wohin man auch schaut, überall ist dieser Prozess wahrnehmbar. Unsere Beziehung zum Haus, zum Auto, zum Fahrrad, zu den Lieblingskleidern, den Büchern, der CD- oder DVDSammlung, den Fotos – allen diesen Dingen ist zu eigen, dass sie ein »Teil von uns« sind oder zu sein scheinen.
Die Bindung an materielle Güter kann bisweilen so stark sein, dass wir, wenn sie uns genommen werden, so- gar ein Gefühl von Schmerz und Verlust empfinden. »Hohl klammern sich die Hände um lächerliche Besitztümer, weil sie ein Bindeglied zur Kette des Lebens sind. Ohne sie sind wir restlos verloren«, behauptet der Marketing-Guru Ernest Dichter in »The Science of Desire«.
Manchmal sind die Bindungen auch eher flüchtig. Einen Augenblick lang leuchten sie im Lichte ihres Neuigkeitswertes, um sogleich wieder zu erlöschen, wenn etwas anderes die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Andere halten ein Leben lang. Besitztümer sind mitunter eine Art Altar für die kostbarsten Erinnerungen und Gefühle. Mit ihrer Hilfe können wir herausfinden, was uns im Leben heilig ist, und dies dann vom Alltagskram unterscheiden.
Diese Form des Materialismus, auch wenn er mit Mängeln behaftet ist, bietet sogar so etwas wie Ersatz für religiösen Trost. Man braucht Hoffnung in einer säkularen Welt, und zwar gerade dann, wenn es einem schlecht geht. Die Einkaufstherapie funktioniert nicht ohne Grund.
Bei all dem spielt der Reiz des Neuen eine absolut zentrale Rolle. Natürlich hat der Neuigkeitswert schon immer Informationen über den sozialen Status transportiert. Wie Thorstein Veblen schon vor über hundert Jahren zeigte, funktioniert »Geltungskonsum« über den Reiz des Neuen. Viele der neuesten Geräte und Modeartikel sind anfangs nur den Reichen zugänglich. Neue Produkte sind von Natur aus teuer, weil sie in kleiner Stückzahl produziert werden. Vielleicht werden sie sogar gezielt zu besonders hohen Preisen auf den Markt gebracht, um diejenigen anzulocken, die in der Lage sind, für soziale Abgrenzung zu zahlen.
Auf die Abgrenzung folgt die Nachahmung. Der soziale Vergleich – nämlich das haben zu wollen, was die anderen haben – erhöht die Nachfrage nach erfolgreichen Produkten rasant und ermöglicht die Massenproduktion, wodurch ursprüngliche Luxusgüter für alle erschwinglich werden. Und der Reichtum an materiellen Gütern mit ihrer ungeheuren Vielfalt enthält auch ein demokratisierendes Element. Er erlaubt es einer immer größeren Zahl von Menschen, die auf der Suche nach einem akzeptierten Platz in der Gesellschaft sind, ihre soziale Identität beständig neu zu erfinden.
Nun ist es freilich gerade diese Überfülle an materiellen Gütern und deren Funktion bei der immerwährenden Neuerfindung des Selbst, die die Konsumgesellschaft von ihren Vorgängern unterscheidet. Materielle Artefakte konnten schon immer Träger von symbolischer Bedeutung sein. Häufig wurde mit ihnen der gesellschaftliche Status in Szene gesetzt. Erst in der Moderne jedoch hat sich dieser Reichtum an materiellen Gütern so tief mit so vielen gesellschaftlichen und psychologischen Prozessen verflochten.
Die symbolische Rolle der Güter wird in der modernen Gesellschaft sogar zur Klärung tiefer existenzieller Fragen darüber, wer wir sind und worum es im Leben geht, verwendet. Schon allein daraus ergibt sich die Verführungskraft des Neuigkeitseffekts. Er bietet Vielfalt und Aufregung; er lässt uns träumen und hoffen. Mit seiner Hilfe können wir unsere Träume und Sehnsüchte nach einem idealen Leben erkunden und der oft recht harten Lebensrealität entkommen.
Materielle Güter sind zwar mangelhafte, aber trotzdem irgendwie überzeugende Stellvertreter unserer Träume und Sehnsüchte. Genau deshalb funktioniert die Konsumkultur anscheinend so gut, zumindest oberflächlich. Die Konsumgüter, meint der Anthropologe Grant McCracken, stellen uns eine konkrete Brücke zu unseren höchsten Idealen zur Verfügung. Natürlich versagen sie bei der Aufgabe, einen echten Zugang zu diesen Idealen zu schaffen, aber gerade dadurch bleibt das Bedürfnis nach weiteren Brücken bestehen und wird die Lust auf weitere Güter geweckt. Die Konsumkultur erhält sich also eben dadurch am Leben, dass sie so erfolgreich versagt!
Und auch hier sei noch einmal daran erinnert, dass unsere Beziehung zu materiellen Gütern mit dieser Dynamik keineswegs erschöpfend beschrieben ist. Konsum ist auch aus ganz einfachen materiellen Gründen erforderlich. Es geht dabei mindestens genauso um das ganz alltägliche Überleben wie um gesellschaftliche und psychologische Prozesse der Identität, Zugehörigkeit, Hoffnung und Selbstverwirklichung. Es ist diese gesellschaftliche Dynamik, die, besser als das rein physische Wohlergehen, eine Erklärung dafür geben kann, warum das Verlangen nach materiellen Gütern so unersättlich zu sein scheint. Und warum der Reiz des Neuen so wichtig ist. Man ist versucht, ein solches System als patho- logisch abzutun. Und in gewissem Sinne ist es das ja auch, ganz eindeutig. Der Psychologe Philip Cushman hat festgestellt, dass das erweiterte Selbst letztendlich ein »leeres Selbst« sei, das ständig »mit Essen, Konsumprodukten und Starrummel ›aufgefüllt‹ werden muss«. Im Extremfall führt das zu Kaufzwang, nicht rückzahlbaren Schulden und psychischer Verzweiflung.
Man muss aber auch sehen, dass das Pathologische daran nicht einfach aus einer bestimmten Eigenschaft der menschlichen Psyche resultiert. Wir sind keineswegs von Natur aus hilflose Idioten, die zu faul oder zu schwach sind, um der Manipulationsmacht der Werbung zu widerstehen. Ganz im Gegenteil, menschliche Kreativität, emotionale Intelligenz und Belastbarkeit in Notlagen sind überall sichtbar, sogar gegenüber einem offenkundig pathologischen Konsumismus.
Aus dieser Analyse geht vielmehr hervor, dass das »leere Selbst« ein Produkt starker gesellschaftlicher Kräfte und der speziellen Institutionen der modernen Gesellschaft ist. Der einzelne Mensch ist dem sozialen Vergleich ausgeliefert. Institutionen werden dem Konsumstreben überantwortet. Die Wirtschaft ist für ihr Überleben auf Konsum angewiesen.
Verräterisch deutlich wird dies, wenn man sich anschaut, wie nahtlos das, was Haushalte ständig an Neuem konsumieren, mit dem, was Unternehmen ständig an Neuem produzieren, zusammenpasst. Das rastlose Begehren des »leeren Selbst« ist das perfekte Gegenstück zu den unablässigen Innovationen des Unternehmers. Die Produktion des Neuen durch kreative Zerstörung stimuliert bei den Verbrauchern die Lust auf Neues (und wird wiederum von dieser stimuliert).
Diese beiden sich selbst verstärkenden Prozesse liefern zusammen genau das, was man braucht, um Wachstum voranzutreiben. Der Umweltökonom Douglas Booth drückt das so aus: »Der Konsument, der nach Neuem und nach Status verlangt, und der Unternehmer, der eine Monopolstellung anstrebt, verschmelzen und bilden zusammen das Fundament langanhaltenden Wachstums.«
Dass diese Unrast nicht zwangsläufig echten sozialen Fortschritt hervorbringt, kann man sich denken. Manchmal beeinträchtigt sie sogar das Wohlbefinden und trägt zu sozialer Rezession bei. Und dafür gibt es ziemlich einleuchtende Gründe, zum Beispiel, dass der Antrieb dieses Systems die Angst ist.
Das erweiterte Selbst ist zum Teil durch die Angst des leeren Selbst motiviert. Der soziale Vergleich wird durch die Sehnsucht nach einem guten Platz in der Gesellschaft angetrieben. Die schöpferische Zerstörung lebt von der Angst, im Wettbewerb um Konsummärkte abgehängt zu werden. »Friss oder stirb« ist das Gesetz des Dschungels. Das gilt gleichermaßen für die Konsumgesellschaft.
Das System ist angstgetrieben und letztlich ungesund. Auf einer bestimmten Ebene funktioniert es aber. Es mag sein, dass das unablässige Streben nach Neuem das Wohlbefinden untergräbt. Solange die Liquidität aber erhalten bleibt und der Konsum steigt, ist das System wirtschaftlich rentabel. Ist eines von beiden nicht mehr gegeben, bricht es zusammen.
Andererseits macht das System immer weniger den Eindruck, als könne Entkopplung hier einen gangbaren Fluchtweg aus der Sackgasse eines destruktiven Materialismus bieten. Natur und Struktur haben sich verschworen und halten uns im stählernen Gehäuse des Konsumismus fest im Griff. Und die Folgen für den Planeten sehen auf jeden Fall düster aus.
Und doch ist hier etwas nicht in Ordnung. Passt denn die Konsumwirtschaft wirklich so gut zur Natur des Menschen? Leben wir wirklich, wie Voltaires Candide es ausgedrückt hätte, in der »besten aller Welten«? Oder ist es nicht eher so, dass bestimmte gut nachgewiesene Aspekte der menschlichen Natur – Selbstsucht, Streben nach Status, Lust auf Neues, sogar Hunger nach Spiritualität – genau das liefern, was notwendig ist, um das Wirtschaftssystem am Laufen zu halten? Dient das System wirklich noch uns oder dienen wir inzwischen dem System?
Erst in der Moderne hat sich der Reichtum an materiellen Gütern so tief mit so vielen gesellschaftlichen und psychologischen Prozessen verflochten.