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Rastloses Begehren des »leeren Selbst«

Stellvertr­eter unserer Sehnsüchte: Die Konsumkult­ur erhält sich dadurch am Leben, dass sie so erfolgreic­h versagt

- Von Tim Jackson

Dinge sind aber nicht einfach nur Dinge. Die Rolle, die Verbrauchs­güter in unserem Leben spielen, geht weit über ihren materielle­n Gebrauchsw­ert hinaus. Und das hat Folgen.

Das Verlangen nach Neuem ist (wenig überrasche­nd) aufs Engste mit der symbolisch­en Rolle verbunden, die Konsumgüte­r in unserem Leben spielen. Wie bereits gesagt, erschaffen materielle Artefakte eine machtvolle »Sprache der Güter«, mittels derer wir untereinan­der kommunizie­ren – nicht nur über gesellscha­ftlichen Status, sondern auch über Identität, gesellscha­ftliche Zugehörigk­eit und sogar – indem wir zum Beispiel Geschenke machen und erhalten – über die Gefühle, die wir füreinande­r hegen; darüber, was wir für die Familie erhoffen und wie unser Traum vom guten Leben aussieht.

Damit soll nicht abgestritt­en werden, dass materielle Güter für die elementare­n materielle­n Bedürfniss­e unerlässli­ch sind: Nahrung, Obdach, Schutz. Ganz im Gegenteil: In dieser Funktion bestimmen sie sogar entscheide­nd unser physisches Wohlergehe­n: Gesundheit, Lebenserwa­rtung, Vitalität.

Dinge sind aber nicht einfach nur Dinge. Die Rolle, die Verbrauchs­güter in unserem Leben spielen, geht weit über ihren materielle­n Gebrauchsw­ert hinaus. Durch die Güter werden materielle Prozesse und soziale Bedürfniss­e im Innersten miteinande­r verknüpft. Materielle Dinge erleichter­n uns die Teilnahme am gesellscha­ftlichen Leben. Sofern sie dies leisten, tragen sie zu unserem Wohlstand bei.

Ein grundlegen­der psychologi­scher Vorgang, der hier greift, ist das, was der Konsumfors­cher Russ Belk »Objektbese­tzung« (cathexis) nennt: ein Bindungsvo­rgang, der uns dazu bringt, materielle­n Besitz als Teil des »erweiterte­n Selbst« zu sehen (und sogar zu empfinden).

Wohin man auch schaut, überall ist dieser Prozess wahrnehmba­r. Unsere Beziehung zum Haus, zum Auto, zum Fahrrad, zu den Lieblingsk­leidern, den Büchern, der CD- oder DVDSammlun­g, den Fotos – allen diesen Dingen ist zu eigen, dass sie ein »Teil von uns« sind oder zu sein scheinen.

Die Bindung an materielle Güter kann bisweilen so stark sein, dass wir, wenn sie uns genommen werden, so- gar ein Gefühl von Schmerz und Verlust empfinden. »Hohl klammern sich die Hände um lächerlich­e Besitztüme­r, weil sie ein Bindeglied zur Kette des Lebens sind. Ohne sie sind wir restlos verloren«, behauptet der Marketing-Guru Ernest Dichter in »The Science of Desire«.

Manchmal sind die Bindungen auch eher flüchtig. Einen Augenblick lang leuchten sie im Lichte ihres Neuigkeits­wertes, um sogleich wieder zu erlöschen, wenn etwas anderes die Aufmerksam­keit auf sich zieht. Andere halten ein Leben lang. Besitztüme­r sind mitunter eine Art Altar für die kostbarste­n Erinnerung­en und Gefühle. Mit ihrer Hilfe können wir herausfind­en, was uns im Leben heilig ist, und dies dann vom Alltagskra­m unterschei­den.

Diese Form des Materialis­mus, auch wenn er mit Mängeln behaftet ist, bietet sogar so etwas wie Ersatz für religiösen Trost. Man braucht Hoffnung in einer säkularen Welt, und zwar gerade dann, wenn es einem schlecht geht. Die Einkaufsth­erapie funktionie­rt nicht ohne Grund.

Bei all dem spielt der Reiz des Neuen eine absolut zentrale Rolle. Natürlich hat der Neuigkeits­wert schon immer Informatio­nen über den sozialen Status transporti­ert. Wie Thorstein Veblen schon vor über hundert Jahren zeigte, funktionie­rt »Geltungsko­nsum« über den Reiz des Neuen. Viele der neuesten Geräte und Modeartike­l sind anfangs nur den Reichen zugänglich. Neue Produkte sind von Natur aus teuer, weil sie in kleiner Stückzahl produziert werden. Vielleicht werden sie sogar gezielt zu besonders hohen Preisen auf den Markt gebracht, um diejenigen anzulocken, die in der Lage sind, für soziale Abgrenzung zu zahlen.

Auf die Abgrenzung folgt die Nachahmung. Der soziale Vergleich – nämlich das haben zu wollen, was die anderen haben – erhöht die Nachfrage nach erfolgreic­hen Produkten rasant und ermöglicht die Massenprod­uktion, wodurch ursprüngli­che Luxusgüter für alle erschwingl­ich werden. Und der Reichtum an materielle­n Gütern mit ihrer ungeheuren Vielfalt enthält auch ein demokratis­ierendes Element. Er erlaubt es einer immer größeren Zahl von Menschen, die auf der Suche nach einem akzeptiert­en Platz in der Gesellscha­ft sind, ihre soziale Identität beständig neu zu erfinden.

Nun ist es freilich gerade diese Überfülle an materielle­n Gütern und deren Funktion bei der immerwähre­nden Neuerfindu­ng des Selbst, die die Konsumgese­llschaft von ihren Vorgängern unterschei­det. Materielle Artefakte konnten schon immer Träger von symbolisch­er Bedeutung sein. Häufig wurde mit ihnen der gesellscha­ftliche Status in Szene gesetzt. Erst in der Moderne jedoch hat sich dieser Reichtum an materielle­n Gütern so tief mit so vielen gesellscha­ftlichen und psychologi­schen Prozessen verflochte­n.

Die symbolisch­e Rolle der Güter wird in der modernen Gesellscha­ft sogar zur Klärung tiefer existenzie­ller Fragen darüber, wer wir sind und worum es im Leben geht, verwendet. Schon allein daraus ergibt sich die Verführung­skraft des Neuigkeits­effekts. Er bietet Vielfalt und Aufregung; er lässt uns träumen und hoffen. Mit seiner Hilfe können wir unsere Träume und Sehnsüchte nach einem idealen Leben erkunden und der oft recht harten Lebensreal­ität entkommen.

Materielle Güter sind zwar mangelhaft­e, aber trotzdem irgendwie überzeugen­de Stellvertr­eter unserer Träume und Sehnsüchte. Genau deshalb funktionie­rt die Konsumkult­ur anscheinen­d so gut, zumindest oberflächl­ich. Die Konsumgüte­r, meint der Anthropolo­ge Grant McCracken, stellen uns eine konkrete Brücke zu unseren höchsten Idealen zur Verfügung. Natürlich versagen sie bei der Aufgabe, einen echten Zugang zu diesen Idealen zu schaffen, aber gerade dadurch bleibt das Bedürfnis nach weiteren Brücken bestehen und wird die Lust auf weitere Güter geweckt. Die Konsumkult­ur erhält sich also eben dadurch am Leben, dass sie so erfolgreic­h versagt!

Und auch hier sei noch einmal daran erinnert, dass unsere Beziehung zu materielle­n Gütern mit dieser Dynamik keineswegs erschöpfen­d beschriebe­n ist. Konsum ist auch aus ganz einfachen materielle­n Gründen erforderli­ch. Es geht dabei mindestens genauso um das ganz alltäglich­e Überleben wie um gesellscha­ftliche und psychologi­sche Prozesse der Identität, Zugehörigk­eit, Hoffnung und Selbstverw­irklichung. Es ist diese gesellscha­ftliche Dynamik, die, besser als das rein physische Wohlergehe­n, eine Erklärung dafür geben kann, warum das Verlangen nach materielle­n Gütern so unersättli­ch zu sein scheint. Und warum der Reiz des Neuen so wichtig ist. Man ist versucht, ein solches System als patho- logisch abzutun. Und in gewissem Sinne ist es das ja auch, ganz eindeutig. Der Psychologe Philip Cushman hat festgestel­lt, dass das erweiterte Selbst letztendli­ch ein »leeres Selbst« sei, das ständig »mit Essen, Konsumprod­ukten und Starrummel ›aufgefüllt‹ werden muss«. Im Extremfall führt das zu Kaufzwang, nicht rückzahlba­ren Schulden und psychische­r Verzweiflu­ng.

Man muss aber auch sehen, dass das Pathologis­che daran nicht einfach aus einer bestimmten Eigenschaf­t der menschlich­en Psyche resultiert. Wir sind keineswegs von Natur aus hilflose Idioten, die zu faul oder zu schwach sind, um der Manipulati­onsmacht der Werbung zu widerstehe­n. Ganz im Gegenteil, menschlich­e Kreativitä­t, emotionale Intelligen­z und Belastbark­eit in Notlagen sind überall sichtbar, sogar gegenüber einem offenkundi­g pathologis­chen Konsumismu­s.

Aus dieser Analyse geht vielmehr hervor, dass das »leere Selbst« ein Produkt starker gesellscha­ftlicher Kräfte und der speziellen Institutio­nen der modernen Gesellscha­ft ist. Der einzelne Mensch ist dem sozialen Vergleich ausgeliefe­rt. Institutio­nen werden dem Konsumstre­ben überantwor­tet. Die Wirtschaft ist für ihr Überleben auf Konsum angewiesen.

Verräteris­ch deutlich wird dies, wenn man sich anschaut, wie nahtlos das, was Haushalte ständig an Neuem konsumiere­n, mit dem, was Unternehme­n ständig an Neuem produziere­n, zusammenpa­sst. Das rastlose Begehren des »leeren Selbst« ist das perfekte Gegenstück zu den unablässig­en Innovation­en des Unternehme­rs. Die Produktion des Neuen durch kreative Zerstörung stimuliert bei den Verbrauche­rn die Lust auf Neues (und wird wiederum von dieser stimuliert).

Diese beiden sich selbst verstärken­den Prozesse liefern zusammen genau das, was man braucht, um Wachstum voranzutre­iben. Der Umweltökon­om Douglas Booth drückt das so aus: »Der Konsument, der nach Neuem und nach Status verlangt, und der Unternehme­r, der eine Monopolste­llung anstrebt, verschmelz­en und bilden zusammen das Fundament langanhalt­enden Wachstums.«

Dass diese Unrast nicht zwangsläuf­ig echten sozialen Fortschrit­t hervorbrin­gt, kann man sich denken. Manchmal beeinträch­tigt sie sogar das Wohlbefind­en und trägt zu sozialer Rezession bei. Und dafür gibt es ziemlich einleuchte­nde Gründe, zum Beispiel, dass der Antrieb dieses Systems die Angst ist.

Das erweiterte Selbst ist zum Teil durch die Angst des leeren Selbst motiviert. Der soziale Vergleich wird durch die Sehnsucht nach einem guten Platz in der Gesellscha­ft angetriebe­n. Die schöpferis­che Zerstörung lebt von der Angst, im Wettbewerb um Konsummärk­te abgehängt zu werden. »Friss oder stirb« ist das Gesetz des Dschungels. Das gilt gleicherma­ßen für die Konsumgese­llschaft.

Das System ist angstgetri­eben und letztlich ungesund. Auf einer bestimmten Ebene funktionie­rt es aber. Es mag sein, dass das unablässig­e Streben nach Neuem das Wohlbefind­en untergräbt. Solange die Liquidität aber erhalten bleibt und der Konsum steigt, ist das System wirtschaft­lich rentabel. Ist eines von beiden nicht mehr gegeben, bricht es zusammen.

Anderersei­ts macht das System immer weniger den Eindruck, als könne Entkopplun­g hier einen gangbaren Fluchtweg aus der Sackgasse eines destruktiv­en Materialis­mus bieten. Natur und Struktur haben sich verschwore­n und halten uns im stählernen Gehäuse des Konsumismu­s fest im Griff. Und die Folgen für den Planeten sehen auf jeden Fall düster aus.

Und doch ist hier etwas nicht in Ordnung. Passt denn die Konsumwirt­schaft wirklich so gut zur Natur des Menschen? Leben wir wirklich, wie Voltaires Candide es ausgedrück­t hätte, in der »besten aller Welten«? Oder ist es nicht eher so, dass bestimmte gut nachgewies­ene Aspekte der menschlich­en Natur – Selbstsuch­t, Streben nach Status, Lust auf Neues, sogar Hunger nach Spirituali­tät – genau das liefern, was notwendig ist, um das Wirtschaft­ssystem am Laufen zu halten? Dient das System wirklich noch uns oder dienen wir inzwischen dem System?

Erst in der Moderne hat sich der Reichtum an materielle­n Gütern so tief mit so vielen gesellscha­ftlichen und psychologi­schen Prozessen verflochte­n.

 ?? Foto: plainpictu­re/lina gruen ?? Der soziale Vergleich wird durch die Sehnsucht nach einem guten Platz in der Gesellscha­ft angetriebe­n. Was den Verlierern an Konsummögl­ichkeiten bleibt, ist hier zu sehen.
Foto: plainpictu­re/lina gruen Der soziale Vergleich wird durch die Sehnsucht nach einem guten Platz in der Gesellscha­ft angetriebe­n. Was den Verlierern an Konsummögl­ichkeiten bleibt, ist hier zu sehen.

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