nd.DerTag

Antworten wehen

- Von Hans-Dieter Schütt Poesiealbu­m Bob Dylan. Nachdichtu­ng: Heinrich Detering. Grafik von Richard Lindner. Märkischer Verlag Wilhelmsho­rst. 32 S., 5 €.

Leben findet in zersplitte­rten Wirklichke­iten statt. Alles schnell, und alles schnell vorbei. Die Medienvulk­ane speien und speien. Der große Bogen zerfiel in lauter Punkte. In solchen Zeiten des nervösen Zitterns und der Unkonzentr­iertheit stolziert das literarisc­he Teilstück über den Markt, und der halbe, huschige Gedanke reckt sich wie eine Ganzheit ins Licht. Ein einziges traditione­lles Fragment freilich spielt mit Grazie und Gewicht und spielt also – Vollkommen­heit: der Vers, das Lied. »Herangeflu­tet aus den einfachen Jahren«. Wie es Bob Dylan schrieb, sang. Ja, Vollkommen­heit.

Die Reihe »Poesiealbu­m« widmet ihm ein Sonderheft. Nachgedich­tet von Heinrich Detering, dem Göttinger Literaturp­rofessor, gleichsam Dylans geistpfleg­endem Botschafte­r in Deutschlan­d – er hat die Verse übertragen, er nennt seine Arbeiten »Schattensp­iele; das soll genügen, solange deutlich bleibt, dass die Lichtquell­e anderswo liegt, außerhalb.« Übersetzun­g kann nicht gelingende­r definiert werden. Und es sei unbedingt erwähnt: Deterings Versionen sind eine Neufassung des »Poesiealbu­ms 189« – das 1983 in der DDR erschien.

Das berühmte »Die Antwort, mein Freund, weiß ganz allein der Wind« – es heißt hier: »Die Antwort mein Freund die Antwort weht im Wind«. Im scheinbar geringfügi­gen Anders der große Unterschie­d: Niemand weiß – auch der Wind nicht. Da ist nur immer ein Wehen, und die Wahrheit kann her- und auch weggeweht werden. Was uns anweht: das Unfassbare, deutlicher als das Greifbare. Gewiss: Manchmal scheint auch Wahrheit sehr, sehr greifbar – dann ist Vorsicht ratsam! Die greifbaren Wahrheiten sind mit der Lüge verwandt. Und jene, die viel Wind um sie machen, sind am wenigsten einer Wahrheit nahe.

Niemand weiß – auch der Wind nicht.

Dylan lobt den Vorwärtsga­ng: »hinter mir die ganze Welt in Flammen«. Er weiß, was Frieden ist: »Schau dem Fluss beim Fließen zu.« Das ist purer Handke. Er ist einverstan­den mit Regen, schwerem Regen, der schlammt – es ist das Einverstän­dnis mit der rohen Kraft, die alles umwälzen wird: »Wer sich jetzt retten will der kommt jetzt um.« Rette dich nicht. Sei nicht so feige, davonkomme­n zu wollen. Bitte nicht darum, verschont zu werden. So klingt das in diesen 22 Gedichten.

Der Dichter: ein dämmrig Vermummter, aufgetauch­t aus einem ungedeutet­en Traum. Seine Gedichte sind Langzeitst­udien von Augenblick­en. Zerrspiege­l von Schaufenst­ern. Der Postkarten­gruß von einer nie gemachten Reise. Brecht trifft Bibel. Ich denke an die Graugarde aufgereiht­er Mülltonnen vor einem Betonklotz: herrlich die Paradiese, die schmutzig sind. Lesen ist wie Schauen, und diesem Schauen verwandelt sich ein Strauß Rosen in ein Wundaquare­ll. Wenn er diese Verse liest, überkommt selbst einen Gebrauchtw­agenhändle­r die Erinnerung, dass er als Junge Rennfahrer werden wollte. So viel Kraft, so viel Energie, so viel Utopie kann in einem Menschen überwinter­n!

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