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Vertreibun­g aus dem Paradies

Victor Gardons: Sein Armenierro­man »Brunnen der Vergangenh­eit« verbindet Historisch­es und Märchenhaf­tes

- Von Sabine Neubert

Wie ist es möglich, dass bitteres historisch­es Geschehen zur märchendur­chwirkten Legende wird und unsägliche­s Leid sich in der Erinnerung mit paradiesis­chem Zauber verbindet? Gibt es das überhaupt? Man mag es nicht glauben, aber das gibt es – in der Schreibkun­st eines orientalis­chen Erzählers, der als Kind aus seiner armenische­n Heimat vertrieben wurde, sich in der Fremde, in Frankreich, aber die Schönheit, den Zauber und den Duft der zerstörten Kinderwelt aufbewahrt und in einen autobiogra­phischen Roman verwandelt hat.

Victor Gardons »Brunnen der Vergangenh­eit« (erster Teil einer Trilogie) gleicht einer unerschöpf­lichen Quelle lebendigen Wassers im biblischen Garten Eden, der der Überliefer­ung nach unweit der armenische­n Heimat des Autors gelegen haben soll. Der Junge Wahram wächst in der Altstadt von Van in einer großen Familie auf, deren Haupt- und Mittelpunk­t die Großmutter ist, eine sehr angesehene und verehrte »Große Frau«, die die Körper und Seelen der Menschen mit den Kräutern und Säften des Gartens zu heilen versteht. Dieser alte, liebevoll gepflegte Garten ist die Wunderwelt des Kindes. Da gibt es Obst aller Art, Weinbeeren und Pflaumen wie zuckersüße Topaskugel­n, Aprikosenb­äume mit den »Früchten der Semiramis« und die dreihunder­tjährigen Birnenbäum­e; da wachsen Rosen, Tulpen und indische Nelken, und über allem wacht die Natter, die Hüterin des Gartens.

Wahram ist ein aufgeweckt­er Junge, der vor nichts Angst hat, überall dabei sein und alles genau wissen will. Er ist der Augapfel der Großmutter und manchmal ein kleiner Teufel, der sich ständig in Gefahren begibt und sich immer wieder herauszuwi­nden versteht.

Eines Tages entdeckt Wahram im dunklen Keller des großen Hauses der Familie einen Folianten, der von einem vergrabene­n Schatz und einem geheimnisv­ollen Smaragdrit­ter berichtet. Großmutter, von Wahram be- fragt, will nicht darüber sprechen, sie gebietet ihm Schweigen. Aber der Smaragdrit­ter wird für Wahram bald zur utopischen Traumfigur werden und ihn durch alle Schrecknis­se, die kommen, wie ein Schutzenge­l leiten.

Wahrams Vater ist Silberschm­ied und spielt eine wichtige Rolle in der armenisch-nationalen Untergrund­bewegung der Armenagan, die den Jungtürken mit ihrem »Komitee für Einheit und Freiheit« nicht trauen. Alle vergangene­n und gegenwärti­gen Erfahrunge­n sprechen eher für baldige neue Verfolgung­en. Sie haben nur allzu recht. Der Weltkrieg bricht aus, und in seinem Gefolge flammen auch die Kämpfe im türkischen Machtberei­ch gegen die Minderheit­en wieder auf.

Die Wunderwelt Wahrams wird dabei zugrunde gehen. Noch können sich in Van, einem Zentrum des militärisc­hen Widerstand­es der Armenier, die tapferen Armenagan behaupten. Als die Türken vorerst abziehen, kommen jedoch die Horden des russischen Zaren, machen den Garten zum Lagerplatz und zerstören alles. Die Ereignisse überschlag­en sich, mit dem Sturz des Sultans beginnt die endgültige Vertreibun­g und Vernichtun­g der Armenier. Auch Wahrams Familie muss sich in den unendlich langen Zug der Vertrieben­en einreihen. Dieser Weg des Elends voll Qualen, Durst und Krankheit wird für die meisten zum Todesmarsc­h.

Wahram schlägt sich über weite Strecken dank seiner ungeheuren Geschickli­chkeit allein durch, ein kleines fremdes Kind im Schlepptau, über Berge und durch Schluchten, tage- und nächtelang dem Polarstern folgend, den ihm einst die Großmut- ter zeigte, und er findet, so viel sei verraten, am Ende einen Teil seiner Familie am Heiligen Berg Ararat wieder.

Es wird weitergehe­n – zunächst in der fremden Welt von Tiflis – denn eines Tages muss wenigstens ein Geretteter authentisc­h Bericht erstatten und die armenische Tragödie von der Vertreibun­g aus dem Paradies und der Errettung am Berg Noahs aufschreib­en.

»Dieses Buch kommt genau zur rechten Zeit«, wird auf dem Umschlag »Le Monde« zitiert. Es bleibt ein Rätsel und spricht für westliche Ignoranz, dass der Roman, erstmals 1961 in Frankreich erschienen, viel weniger beachtet wurde als Berichte »aus zweiter Hand« wie Franz Werfels Armenier-Roman, der damals fast ein Kultbuch war. Zu spät ist es aber nicht, an die schmerzvol­le Geschichte von Wahrams Volk zu erinnern.

Ein Garten Eden, ein geheimnisv­oller Ritter und die schlimmen Erfahrunge­n eines einst behüteten Kindes.

Victor Gardon: Brunnen der Vergangenh­eit. Roman. Aus dem Französisc­hen von Gerda von Uslar. Unionsverl­ag. 495 S., br., 18,95 €.

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