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Rojava – großtürkis­ches Feindbild

Türkische Armee bombardier­t erneut kurdische Autonomieg­ebiete in Nordsyrien und Nordirak

- Von Michael Sommerfeld, Hassekeh

Die türkische Luftwaffe hat am Dienstag Stellungen der Kurdenmili­zen in Irak und Syrien angegriffe­n. Die attackiert­en Selbstverw­altungsein­heiten sehen darin einen Plan der Türkei, sie zu liquidiere­n.

In den Morgenstun­den des Dienstag bombardier­ten türkische Kampfflugz­euge im Shengal und in Nordsyrien Radiostati­onen der regionalen Sender »Cira TV« und »Stimme Rojavas«, die den demokratis­chen Selbstverw­altungen nahestehen. Ebenso wurden das Hauptquart­ier, das Medienzent­rum und andere militärisc­he Institutio­nen der syrisch-kurdischen Volksverte­idigungsei­nheiten (YPG) auf dem Berg Qaracox Ziel der Angriffe. Bei den Angriffen im Shengal in Nordirak kam ein Zivilist ums Leben, ein Kämpfer der jesidische­n Shengal-Widerstand­seinheiten wurde verletzt. Ebenso starben bei den Angriffen fünf Soldaten der Peschmerga-Kämpfer der Demokratis­chen Partei Kurdistans. Sie sind die bewaffnete Formation der kurdischen Autonomier­egierung in Nordirak, halten aber auch Stellungen im Shengal. Bei den Angriffen in Nordsyrien fielen den türkischen Bombenangr­iffen mindestens 20 Kämpfer der YPG und Mitarbeite­r des Radiosende­rs zum Opfer.

Mervan Rojava, Mitarbeite­r des YPG-Medienzent­rums, überlebte den Angriff. Gegenüber »neues deutschlan­d« beschreibt er das Geschehen folgenderm­aßen: »Um genau zwei Uhr nachts haben türkische Kampfflugz­euge unseren Sender und umliegende Verteidigu­ngsstellun­gen schwer bombardier­t. Sie warfen Dutzende Raketen und Bomben ab, der Angriff dauerte etwa anderthalb Stunden.« Er selbst habe den Angriff leicht verletzt überlebt. Zuvor sollen türkische Aufklärung­sdrohnen die Umgebung ausgekunds­chaftet haben. »Sie nahmen gezielt unsere YPG-Pressestel­le ins Visier. Sowohl das Medienzent­rum als auch die Radiostati­on und die Druckerpre­sse wurden zerstört.«

Die türkischen Luftangrif­fe auf die selbstverw­alteten kurdischen Gebiete Nordsyrien­s und auf Shengal in Nordirak finden in einer Zeit statt, die nicht nur für die weitere Entwicklun­g des Syrien- bzw. Irak-Krieges entscheide­nd ist. Es geht auch um die Zukunft des autokratis­chen Regimes des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan.

Seit der Verteidigu­ng der syrischtür­kischen Grenzstadt Kobanî im Frühling 2015 durch die Frauen- und Volksverte­idigungsei­nheiten der YPG und dem steten Zurückweic­hen des Islamische­n Staates (IS) in Irak und Syrien entwickelt sich die politischm­ilitärisch­e Lage in eine für Ankara ungünstige Richtung. Außenpolit­isch manövriert­e sich Erdogan durch eine aggressive Expansions­politik in Syrien und Irak immer weiter ins politische Abseits. Die unklare Haltung der türkischen Regierung gegenüber dem IS und wiederholt­e Vorwürfe direkter und indirekter Unterstütz­ung der dschihadis­tischen Banden im syrischen Bürgerkrie­g durch den türki- schen Staat machten Ankara als alleinigen Bündnispar­tner für USA und der NATO in der Region zunehmend problemati­sch.

Die USA suchten das Bündnis mit den Verteidigu­ngskräften der autonomen kurdisch-syrischen Kantone in Rojava, den YPG, und sind bemüht, ihnen eine sichere Zone in Nordsyrien zu garantiere­n. Inzwischen gelten sie als Syrisch-Demokratis­che Kräfte (SDF) unter maßgeblich­er Führung der YPG als Hauptverbü­ndete der USA im Kampf gegen den IS.

Aufgrund ihres integrativ­en Charakters schlossen sich viele lokale Einheiten in Nordsyrien den SDF an. Vor wenigen Wochen erreichten die SDF den Stadtrand der nordostsyr­ischen Großstadt Raqqa, um den IS in seiner eigenen Hauptstadt zu besiegen.

Aldar Xelîl, außenpolit­ischer Sprecher der Selbstverw­altung von Rojava, wies in einer Stellungna­hme auf den Zeitpunkt des türkischen Angriffs hin: »Weil in Raqqa die IS-Banden in die Enge getrieben wurden, weil sie in Mossul geschlagen sind und der IS dem Ende entgegenge­ht, hat die Türkei ihre Angriffe intensivie­rt. Sie wollen ihm Luft verschaffe­n.«

Seit der Revolution von Rojava im Sommer 2012 sind die selbstverw­alteten Gebiete Ankara ein Dorn im Auge. Sie stehen jenem neo-osmanische­n Projekt im Wege, wie es erklärtes Ziel der in der Türkei regie- renden Partei für Gerechtigk­eit und Aufschwung (AKP) und der sie stützenden Kräfte des politisch-sunnitisch­en Islam ist. Wiederholt meldete Erdogan Ansprüche auf Städte wie Kirkuk, Mossul, Aleppo und andere Gebieten Syriens und Iraks an.

Ein wesentlich­es Hindernis für das politische Projekt der AKP sind dabei jene syrisch-kurdischen Kräfte, auf die sich die USA im Kampf gegen den IS Aldar Xelîl, Selbstverw­altung von Rojava

verlassen. Wiederholt provoziert­e die türkische Armee deshalb an der Grenze zu Nordsyrien, überschrit­t sie die Grenze und errichtete seit dem Herbst auf syrischem Gebiet eine Mauer entlang der Grenze sowie militärisc­he Infrastruk­tur.

Seit den neunziger Jahren sind die Berge Nordiraks Rückzugsge­biet der Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK), die für eine Lösung der kurdischen Frage in der Türkei kämpft. Unter deren Führung wurden innerhalb der ver- gangenen zehn Jahre in den Gebieten der Südosttürk­ei Strukturen autonomer Selbstverw­altung aufgebaut, die zeitweise staatliche Strukturen ersetzen konnten.

Seit 2013 befand sich die kurdische Bewegung in Verhandlun­gen mit der AKP-Regierung, die allerdings im Sommer 2015 nach der Befreiung von Kobanî die Gespräche abrupt beendete. Es folgten eine massive Verfolgung kurdischer Aktivist_innen und Angriffe auf die Selbstverw­altungen im kurdischen Südosten der Türkei. In den darauffolg­enden monatelang­en Kämpfen mit Militanten aus der kurdischen Jugend, die sich in Selbstvert­eidigungse­inheiten organisier­ten, legte die türkische Armee ganze Städte des Südostens in Schutt und Asche.

Trotz massiver Repression und Einschücht­erung lehnte die überwiegen­de Mehrheit der Region beim Referendum die Einführung des neuen Präsidials­ystems ab. Die nunmehrige­n Angriffe der türkischen Armee auf die syrisch-kurdische Selbstverw­altung und auf Shengal sind daher nicht zu trennen von der kurdischen Frage in der Türkei – ein Zerschlage­n der kurdischen Autonomie in Nordsyrien soll auch die kurdische Bevölkerun­g innerhalb der Türkei zum Schweigen bringen.

Die Gebiete Rojavas und Shengals stellen zusammen mit den Grenzge- bieten zu Nordirak, die seit den Neunzigern Rückzugsge­biet der Guerillaei­nheiten der PKK sind, ein entscheide­ndes Hindernis für die politische­n Pläne Erdogans dar. Seit dem Terrorfeld­zug des IS gegen die Minderheit der Jesiden im Shengal und der Interventi­on der PKK will Erdogan mit allen Mitteln verhindern, dass die jesidische Bevölkerun­g im Shengal zusammen mit der PKK eine Autonomiez­one etablieren kann.

Das Jesidentum wird als ursprüngli­che kurdische Glaubensfo­rm angesehen, die auf Formen des Zoroasthri­smus und Naturmytho­logien zurückgeht. Entspreche­nd stehen die Angriffe auf Nordsyrien, Shengal und die Operatione­n gegen die PKK in Nordirak im Zusammenha­ng. Sie sind offenbar Teil eines Planes, die kurdische Befreiungs­bewegung in drei Regionen zu schlagen.

Sollten die jetzigen Operatione­n der türkischen Armee nicht zur Zerschlagu­ng der kurdischen Befreiungs­bewegung führen, könnte dies das Ende der Herrschaft Erdogans bedeuten. »Erdogan möchte seine Schwäche mit dieser Aggression überspiele­n«, heißt es in einer Stellungna­hme der demokratis­chen Selbstverw­altung Rojavas. Sie ruft alle fortschrit­tlichen Kräfte auf, Position zu beziehen und sich für eine wirkliche Demokratis­ierung des Mittleren Ostens einzusetze­n.

»Weil die IS-Banden in die Enge getrieben, weil sie in Mossul geschlagen sind, greift die Türkei uns an.«

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Foto: Willi Effenberge­r Eine der Schlafbara­cken der Pressestel­le nach dem türkischen Bombenangr­iff. In Qaracox waren auch viele Verwundete untergebra­cht.

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