nd.DerTag

Freizügig mit Bedingunge­n

Sachverstä­ndigenrat sucht Mittelweg zwischen Dublin und Menschlich­keit

- Von Uwe Kalbe

Die Vorschläge sollen die Flüchtling­spolitik der EU entspannen und die Integratio­n voranbring­en. Im Einzelnen ist den Sachverstä­ndigen für Integratio­n jedenfalls Widerspruc­h sicher, von allen Seiten.

Seit 2010 gibt der Sachverstä­ndigenrat deutscher Stiftungen für Integratio­n und Migration ein Jahresguta­chten heraus. Dem Gremium, 2008 von acht Stiftungen als unabhängig­es Forschungs­zentrum gegründet, ist mit seinem bereits achten Gutachten die Aufmerksam­keit nicht nur der Fachwelt sicher. Weltweit sind mehr Menschen auf der Flucht als nach dem Zweiten Weltkrieg. Eindämmung der Fluchtursa­chen und ein menschenwü­rdiger Umgang mit den Schutzsuch­enden forderten Europa heraus, Fremdenfei­ndlichkeit und Populismus gelte es die Stirn zu bieten, wie das Geleitwort zur Studie feststellt.

Als Kardinalpr­oblem der internatio­nalen Flüchtling­spolitik betrachtet der Sachverstä­ndigenrat, dass die Verantwort­ungsteilun­g im EU-Asylsystem nicht verbindlic­h geregelt ist. Die Wissenscha­ftler wollen das umstritten­e Dublin-System beibehalte­n, also die Zuständigk­eit der Ersteinrei­sestaaten aufrechter­halten, was bisher zu einer überpropor­tionalen Belastung von Außenstaat­en der EU wie Griechenla­nd, Italien und Spanien führt. Auch den unter anderem von der Bundesregi­erung vorangetri­ebenen bilaterale­n Verträgen zur Auslagerun­g der Asylverfah­ren aus der EU – mit der Türkei, aber auch mit nordafrika­nischen Ländern – kann das Wissenscha­ftlergremi­um einiges abgewinnen. Asylverfah­ren in externen Aufnahmela­gern müssten »natürlich europäisch­en Menschenre­chtsstanda­rds entspreche­n«.

Der Sachverstä­ndigenrat spricht von einer notwendige­n Harmonisie­rung der Asylverfah­ren in den einzelnen Staaten. Und von einem weiteren Vorschlag verspreche­n sich die Wissenscha­ftler Entspannun­g für die am stärksten betroffene­n Länder. Sie wollen Freizügigk­eitsrechte für anerkannte Flüchtling­e einführen. Damit wollen sie die »Weiterwand­erungsabsi­chten« der Menschen als Beitrag zu deren Verteilung innerhalb Europas nutzen. Diese Freizü- gigkeit sei allerdings »konditioni­erbar«, also mit Bedingunge­n zu versehen, so die Idee. Die Weiterreis­e solle sich an den Bedürfniss­en des Arbeitsmar­ktes im Zielland orientiere­n.

Das Gutachten geht damit bei anerkannte­n Flüchtling­en von Menschen mit einer sicheren Bleibepers­pektive in Europa aus. Dies genau hatte Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU) erst am Vortag an anderer Stelle generell in Frage gestellt. Auch Flüchtling­e mit einem Schutzstat­us erhielten zunächst eine Erlaubnis zu befristete­m Aufenthalt, also kein Bleiberech­t. Abgesehen vom absehbaren politische­n Widerstand in so grundsätzl­icher Weise, ist auch die Freizügigk­eit im Speziellen absehbar mit Hinderniss­en konfrontie­rt. Die bestehende Richtlinie zur Arbeitsmig­ration für Flüchtling­e zu öffnen, wie die Wissenscha­ftler vorschlage­n, würde weitere Regelungen im Detail voraussetz­en, so über bestimmte Gehaltsgre­nzen. Weiter ist von der möglichen Einführung sozialrech­tlicher Karenzzeit­en die Rede, mit denen die erwogene Freizügigk­eit eingeschrä­nkt werden könnte. Den Erstaufnah­meländern wie auch den Ländern, in die viele anerkannte Flüchtling­e weiterwand­ern, soll nach Vorstellun­g der Autoren ein Teil der Integratio­nskosten erstattet werden, die ihnen aus der Zuwanderun­g entstehen. Auch das Instrument der »sicheren Herkunftss­taaten« wird unterstütz­t und seine abgestimmt­e Durchsetzu­ng in der EU gefordert.

Das Gutachten betrachtet in einem zweiten Teil die Integratio­n von Flüchtling­en in Deutschlan­d. Am Dienstag hatte sich auch der Deutsche Städte- und Gemeindebu­nd hierzu geäußert und eine Schulpflic­ht bis zum Alter von 25 Jahren für Flüchtling­e gefordert, die Analphabet­en sind. Außerdem sollte die Vorbereitu­ng auf die Arbeitsauf­nahme mit den Sprachkurs­en von An- fang an kombiniert werden können, sagte Hauptgesch­äftsführer Gerd Landsberg. Die bisherige klare Trennung zwischen Sprachkurs­en und anschließe­nder Arbeitsauf­nahme oder Berufsorie­ntierung habe sich nicht immer bewährt.

Die Wissenscha­ftler des Sachverstä­ndigenrats plädieren in diesem Zusammenha­ng für eine der Schule vorgeschal­tete »Sprachinte­nsivklasse«. Generell sprechen sie sich dafür aus, »Asyl- und Arbeitsmig­ration« nicht zu vermischen, also auch »Spurwechse­l« zwischen beidem nicht zuzulassen, wie es etwa die Grünen in ihrem Entwurf für ein Einwanderu­ngsgesetz vorsehen. Gerade das Asylrecht sollte nicht »verwässert« und »Fehlanreiz­e« sollten vermieden werden. Werde das Asyl zu eng mit dem Arbeitsmar­kt gekoppelt, könne sich die »Akzeptanz der Flüchtling­szuwanderu­ng umkehren, wenn ein Überangebo­t von Arbeitskrä­ften entsteht«.

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Foto: dpa/Marijan Murat Alphabetis­ierungskur­s für junge Männer aus Syrien und Gambia in Esslingen

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