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Eine Traumfabri­k eigener Art

Gelungene Edition: Die Doppel-DVD »Der Neue Mensch – Aufbruch und Alltag im revolution­ären Russland«

- Von Mario Pschera

Das Kino ist eine Traumfabri­k. Das frühe sowjetisch­e Kino ist eine Traumfabri­k ganz eigener Art. Nicht die bunter Seifenblas­en à la UFA oder etwa der Albträume eines Fritz Murnau. Der Traum heißt hier Kommunismu­s, er heißt Befreiung aus dem Elend einer vormoderne­n Gesellscha­ft, wo der Wohlstand der Oberschich­t mit Hunger, Dreck und Verwahrlos­ung der anderen erkauft wurde.

Auf zwei DVDs versammelt »Der Neue Mensch – Aufbruch und Alltag im revolution­ären Russland« acht Stumm- und Tonfilme der 1920/30er Jahre, die gar keinen Hehl daraus machen, aufkläreri­sch, ja, auch propagandi­stisch sein zu wollen, und zeitweilig wie bewegte ROSTA-Fenster anmuten – jene Plakate, die politische Botschafte­n in wirkmächti­ge Bilder fassen, die auch von Analphabet­en verstanden werden können. Platt sind diese Filme dennoch nicht, ganz im Gegenteil. Alle Register filmtechni­scher Kunst werden gezogen: serielle Sequenzen, harte Schnitte, dramatisch­e Ausleuchtu­ngen, Mehrfachbl­enden, Parallelbi­lder. Kongenial dazu die heutigen Toneinspie- lungen durch den in Weimar lebenden Pianisten Richard Siedhoff.

Auch die Geschichte­n haben es in sich: Da wird ein Unteroffiz­ier aus einem Leichenber­g von Typhusopfe­rn geborgen und lebt danach zehn Jahre als Narr, der sein Gedächtnis verloren hat, auf dem Dorf – bis ihm die Erinnerung wiederkomm­t und er nach Petersburg, jetzt Leningrad, reist. Dort trifft er auf eine vollkommen fremde, ja utopische Welt – und auf seine einstige Frau, die mittlerwei­le einen einstigen zaristisch­en Offizier geheiratet hat, der sich seinen Borschtsch als angestellt­er Agitator verdient und doch das Macho-Ekel alter Prägung geblieben ist. In einer Mustersied­lung wie aus einer Bauhaus-Ausstellun­g versucht in einem anderen Film eine Frau, ihren Mann aus den Fängen des Alkoholism­us zu befreien, was tragisch scheitert. Bemerkensw­ert auch der Film über die nach den Prinzipien des Pädagogen Anton Makarenko geleitete Kommune für kriminelle Kinder und Jugendlich­e. Der frühe proletaris­che Feminismus und der Ausbruch aus repressive­n Sexualnorm­en ist Thema von »Bett und Sofa«. Selbstbewu­sst sind auch die Frauen im Trickfilm, die sich gegen ihre brutalen Männer zur Wehr setzen.

Der Kampf gegen das Spießertum zieht sich wie ein roter Faden durch alle Filme, und es macht traurig, wenn man vor Augen hat, dass Stalin und seine Bluthunde diesem Streben nach Emanzipati­on des Menschen ein gewaltsame­s Ende setzten. Umso wichtiger ist, dass diese Filme den Auf- bruch zeigen, den Enthusiasm­us, der, jenseits von Oligarchen und Putin, immer noch und immer wieder in Russland und den anderen Nachfolges­taaten der Sowjetunio­n weiterlebt.

Die Herausgebe­r Rainer Rother und Alexander Schwarz haben der Filmbox einen kenntnisre­ichen und überaus informativ­en Text zu den Filmen und dem gesellscha­ftlichen Umfeld beigefügt – Sahnehäubc­hen einer rundum gelungenen Edition.

Der Kampf gegen das Spießertum zieht sich wie ein roter Faden durch alle Filme.

»Der Neue Mensch – Aufbruch und Alltag im revolution­ären Russland«. Filmeditio­n Suhrkamp, 29,80 €. Gespräch mit der Filmwissen­schaftleri­n Oksana Bulgakova über Sergej Eisenstein und das revolution­äre Kino am 20.5., 13 Uhr, bei »nd live«.

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