Von Köpenick nach Williamsburg
Nach oben buckeln, nach unten treten? Aktualisierung einer Sozialmetapher.
Der Mann, heißt es im »Hauptmann von Köpenick« über einen preußischen Bürokraten, sei ein echter Radfahrer: »Nach unten tritt er, nach oben buckelt er.« So fasste Carl Zuckmayer in seiner 1931 uraufgeführten Realgroteske das Wesen des eingefleischten Untertanen zusammen. Heinrich Mann hatte diesen Menschenschlag schon anderthalb Jahrzehnte zuvor in seinem gleichnamigen Roman vorgeführt; auch bei Kurt Tucholsky gibt es immer wieder Anspielungen auf diesen Doppelcharakter des autoritären Subjekts.
Den Dreien ist gemeinsam, dass sie ein speziell preußisch-deutsches Phänomen beschrieben. Besonders deutlich wird dies bei Heinrich Mann: Der Geist, der vor der Obrigkeit kriecht und selbst Kriecherei erwartet, erscheint in seinem kurz vor dem Ersten Weltkrieg vollendeten Roman als Resultat des verkümmerten Liberalismus: Der alte Buck, verkrachter 1848er, verscheidet im Angesicht der stolzen Untertanenbrust des Heßling mit einer Miene, als habe er den »Teufel gesehen«.
Das in der FDP aufgehobene Elend des deutschen Liberalismus, der sich mit der Krone gegen die Arbeiter verbündete, statt das alte Regime hinwegzufegen, ist bei Mann noch Literatur. In der Bundesrepublik wurde dieser Zusammenhang von Historikern um Hans-Ulrich Wehler als »Sonderwegsthese« zum Erklärungsansatz der Katastrophe des 20. Jahrhunderts: Im Ausbleiben einer bürgerlichen Revolution habe sich im Kaiserreich eine antidemokratische Elite gebildet, die ihre politische Frustration durch übersteigerten Nationalismus kompensierte und die Republik leichtfertig aufgab.
Insofern führt die Radtour der deutschen Geschichte von Köpenick nach Auschwitz. Ist also der so verstandene »Radfahrer« ein exklusiv deutscher Sozialcharakter? Dass die Metapher von allgemeinerer Bedeutung ist, zeigt schon der Erfolg, den Zuckmayers Hauptmann auch international hatte. 1941 gab es etwa ein US-amerikanisches Remake von Richard Oswalds zeitgenössischer Verfilmung, noch 1971 gab der Shakespearemime Paul Scofield in einer erfolgreichen britischen Bühnenversion den »Captain of Koepenick«.
Zwar wird englischsprachigen Köpenickiaden auch das Motiv zugrunde gelegen haben, über die Deutschen zu lachen. Wirklich funktionieren konnten sie aber nur, weil der Plot auch dort alltagsplausibel war. Den Typus des »Radfahrers«, auf den die Hauptmannsgeschichte baut, kannte man auch in den Büros von London und Manhattan. Als – nach William H. Whyte – »Organization Man« ist er Ergebnis wie Bedingung der bürokratischen Industriegesellschaft, die man nach Rudolf Hilferding »Organisierten Kapitalismus« oder nach Antonio Gramsci »Fordismus« nennen kann. Die für diese Ära typischen industriellen Großunternehmen mit vertikalen Befehlsketten und kafkaesken Funktionärsapparaten förderten so sehr diesen Homo hierarchicus wie Massenparteien und zentralistische Gewerkschaften.
Diesen Typus des »Radfahrers« als Virtuosen formaler Hierarchie kennt man noch immer, zumal in der Politik. Das beschrieb 2003 in einem Essay der Pedalist Rudolf Scharping, der 2002 als Bundesskandalminister zurücktreten musste und 2005 Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer wurde. Demnach muss, wer dort Erfolg haben will, schon mal ein »Tandem« bilden oder sich im »Windschatten« bewegen können, ohne selbst zu viele Konkurrenten mitzuziehen – und zugleich den Eindruck eines »Hinterradlutschers« vermeiden, der »Führungsarbeit« scheut.
Doch im Allgemeinen scheint die klassische Radfahrermetapher seit den 1980er Jahren etwas außer Ge- brauch zu kommen. Stattdessen hat die Kultursoziologie jüngerer Jahre dem Radfahrer neue Attribute zugeschrieben. Das Fahrrad entwickelt sich vom Transportmittel der vielen und Leistungssportgerät weniger allmählich zum Ausdruck sorgsam kuratierter Selbstinszenierung und Träger eines neuen Abenteuertums – von der Drahtesel-Saharadurchquerung über das russische Roulette unangemeldeter Radrennen durch automobilisierte Innenstädte bis zu jenen BMX-Fahrern, die sich möglichst »stylish« Treppen hinunterstürzen.
Paradigmatisch für eine neue Gesellschaftsmetapher ums Veloziped ist die Arbeit des Ethnologen Jeffrey Kidder über Radkuriere in US-Großstädten. Er geht der Frage nach, wieso sich diese als coole »Kultur« feiern, obwohl sie tatsächlich unterbezahlte Laufburschen ohne soziale Sicherung sind. Seine Antwort: Indem sie sich – den Kopf immer oben – ra- send und ohne Bremse durch den Verkehr schlängeln, indem sie stets dessen Gewoge antizipieren, um flüchtige Gelegenheiten des Durchkommens zu finden, genießen sie den »Flow« der Metropole. Und in ihrer ständigen Wiederholung verdränge diese jeweils momenthafte Gelingensfreude im postmodernen Erlebnismenschen die rationale Zukunftsangst des Homo oeconomicus.
An dem nur scheinbar abseitigen Beispiel zeigt Kidder, wie die neoliberale Ordnung der Postmoderne konkret, nämlich körperlich, beglaubigt wird. Sein »Radfahrer« taugt insofern zur Sozialmetapher des heute hegemonialen Arbeitssubjekts zumal der »kreativen« Leitbranchen: spontane Impulsivität statt langfristiger Disziplin, Projektorientierung statt Lebensplanung, »Verwirklichung« im Beruf statt nach Feierabend.
Schien die klassische Fahrradmetapher gerade für Deutschland ty- pisch zu sein, beschreibt diese Verschiebung wohl besonders die USA: Der Radfahrer ist sozusagen aus dem obrigkeitlich-preußischen Köpenick in den besonders angesagten New Yorker Kreativszenestadtteil Williamsburg verzogen.
Was heißt das nun, um im Sprachbild zu bleiben, hinsichtlich der Revolution, die doch angeblich Fahrrad fährt? Lieber absteigen und Bus fahren, denn dort sitzt man immerhin in Gemeinschaft? An dieser Stelle lässt sich der Philosoph Michel Foucault bemühen: Es gibt keine Macht ohne Widerspruch. Der bürokratisch-kollektivistische Radfahrer der Hierarchien und Organisationen konnte derselben immerhin die Kranken- und Rentenversicherung abtrotzen. Und wie sich die individualistische Freiheitsidee, die der postmoderne Erlebnisbiker verinnerlicht, bei anhaltender Frustration artikuliert, hat sich vielleicht noch nicht erwiesen.
Das Fahrrad entwickelt sich vom Transportmittel der vielen und Leistungssportgerät weniger allmählich zum Ausdruck sorgsam kuratierter Selbstinszenierung und Träger eines neuen Abenteuertums.