Es handelt sich um ein Fahrrad
Mensch, Rad und Ruin: Ein in der Literatur vernachlässigter Zusammenhang.
Bei kleinen Kindern fängt es schon an, dass sich ihre Fahrrädchen der Farbe des Regenmäntelchens oder des Strumpfhöschens anzupassen scheinen. Bei Erwachsenen meint man etwa, der ausgreifende Lenker des Herrenrades großer Herren schaffe schon den Raum für die wehenden Mantelschöße und gebe deren Linien vor. Rad und Radtaschen bei den Outdoortypen gehen optisch und funktional unmittelbar in die auf dem Rücken getragenen Rucksäcke und weiter in die Funktionsjacken sowie die darunter befindlichen Funktionskörper über. Und der Hipster gondelt auf seiner klappernden Möhre telefonierend mit wehendem Bart durch die Stadt, wobei Mensch und Rad die gleiche Spannkraft aufweisen wie der am Arm baumelnde Hipsterbeutel und eine harmonische Einheit bilden.
Wer Flann O’Briens »Der dritte Polizist« gelesen hat, kann sich dieses Phänomen leicht erklären. Zwar geht die im Roman behandelte Atomtheorie nicht auf den großen Philosophen und Wissenschaftler de Selby zurück, dessen Erkenntnisse dort ausführlich nachzulesen sind: Die Erde ist eine Wurst, Reisen ist Halluzination, die nächtliche Dunkelheit eine Verdichtung »schwarzer Luft« und der Schlaf eine Folge von Ohnmachtsanfällen durch die daher rührende partielle Erstickung usw. Aber sie ist ebenso einleuchtend. Die Atomtheorie besagt, dass Mensch und Rad auf gemeinsamen Fahrten elementare Teilchen austauschen wie Milch und Kaffee in der Tasse. »Das Brutto- und Nettoresultat davon ist, daß die Persönlichkeit von Menschen, die die meiste Zeit ihres natürlichen Lebens damit verbringen, die steinigen Feldwege dieser Gemeinde mit eisernen Fahrrädern zu befahren, sich mit der Persönlichkeit der Fahrräder vermischt«, erklärt Sergeant Pluck, einer der beiden ersten Polizisten. Er weiß von einem Briefträger zu berichten, der es auf 71 Prozent Fahrrad gebracht hat, weil er »vierzig Jahre lang jeden Tag eine Runde von achtunddreißig Meilen mit dem Fahrrad, bei Hagel, Regen und Schneefall« absolvierte. So mancher, ähnelt er auch äußerlich einem Menschen, ist zu einem Drittel oder zur Hälfte Fahrrad. Und das bedeutet, Pluck zufolge, Schlimmeres als die Schwarzen Blattern, also den sicheren Ruin.
»Handelt es sich um ein Fahrrad?«, lautet daher die entscheidende und wiederholt gestellte Frage im Roman »Der dritte Polizist«. Und sie ist in Anbetracht der Atomtheorie weitaus existenzieller als etwa »Haben Sie ein Fahrrad?«. Dies mit Ja zu beantworten, vermag zwar einem jungen Leben eine entscheidende Richtung zu geben, wie etwa dem des Mario Jiménez in Antonio Skármetas Werk »Brennende Geduld«. Jiménes wird wegen seines Fahrrads Briefträger (!) für Pablo Neruda, gewinnt seine Liebe für sich und besiegelt letztlich sein Schicksal. Doch trifft dies nicht den Kern der Sache.
Viel ist in den vergangenen 200 Jahren über Fahrräder geschrieben geworden, insbesondere seit deren größerer Verbreitung Ende des 19. Jahrhunderts. Doch zumeist philosophierten und lamentierten die Literaten bloß darüber wie über die Liebe. Stets geht es um die erste Begegnung, die Annäherung, das erste Mal, das kurze gemeinsame Glück, den Unfall, den Verlust. Immer Action, immer Handlung, kaum einmal Tiefgründiges über die Koexistenz von Mensch und Fahrrad.
So beschreibt Luigi Bartolini in »Fahrraddiebe«, wie der Held der Geschichte auf belebtem Platze auf ein »ganz neues, blitzendes, verchromtes Rad« aufmerksam wird, mit verführerischen Schutzblechen, Lampe und doppelter Felgenbremse. Als er die Kette »leicht, regelmäßig, fast musikalisch, vollkommen« schnurren hört, ist es um ihn geschehen: »Und so passierte es, dass ich mich in ein vollkommenes Fahrrad verliebte.« Sogleich bringt er es – nur zu deutlich sind die Parallelen zu herkömmlichen Liebesbeziehungen – nach Hause, schließt es in sein Atelier, und im weiteren Verlauf der Geschichte spielt es keine Rolle mehr. Stattdessen jagt er einem anderen Exemplar nach, das er nicht haben kann, weil es ihm gestohlen wurde. Neben den verheerenden Folgen, die der Krieg auf die Gesellschaft hat, will er dem Leser weismachen: »Es geht im Leben darum, Verlorenes wiederzufinden.«
Wo das Rad permanenter Begleiter ist, wird es meist nur nebenbei erwähnt, sieht man einmal von Radsportlern ab, die ihre Vorliebe für diese Art fürchterlich anstrengender Fortbewegung zu Papier gebracht haben, welche auf Dauer natürlich auch zur Folge hat, dass sie nicht mehr alle Atome beisammen haben. Es erlangt genau in dem Moment Aufmerksamkeit, wenn es verschwindet. »Er hatte sie vom Mund sich abgespart / Und stantepede nach der Probefahrt mit ihr gepaart« heißt es in »Tomayers kleine Fahrraddiebhalsgerichtsordnung«, und Horst Tomayer hätte diese Zeilen nicht verfasst, wäre »sie« – das Fahrrad – nicht ent- wendet worden. Darin wird der Dieb in des Dichters Fantasie genüsslich verhackstückt, und die glücklichen Tage mit dem nun schmerzlich vermissten Objekt werden im Rückblick maßlos verklärt: »Sie trotzte Scherben, Nägeln, Streusalz, Splitt, / Hielt an die Luft, gehorchte schnurrend jeder Schaltung, tapfer jedem Tritt / Er dankte ihrs mit trocknem Unterstand, korrektem Pneudruck und manch Extraschmätzchen Öl / Da kam der Fahrraddieb und nahm ihm das Juwel«.
Die Glücksgefühle beim ersten Besteigen sind vielfach überliefert, etwa wenn der Präparator Franz Schröter in Uwe Timms »Der Mann auf dem Hochrad« nach vielen vergeblichen Versuchen plötzlich »fuhr, den Oberkörper weit vornübergelegt, was, wie er wußte, falsch, gefährlich und unelegant war, aber er fuhr und hatte plötzlich das Gefühl, als schwebe er, ein Gefühl, das er später als das reine Glück beschrieb, ein Gefühl der Mühelosigkeit ...« Vom Sausen, Flitzen und dem metaphorischem Dahinfliegen ist bei solchen Begebenheiten die Rede, immer wieder heißt es, es gehe »wie von selbst« und die Gesetze der Schwerkraft würden aufgehoben, bis hin etwa zu Joachim Ringelnatz’ Fidje Pappendeik (in: »Der arme Pilmartine«), der mit einem gewöhnlichen Rad tatsächlich in die Luft fliegt wie Jahrzehnte später im Film E.T. und seine Freunde.
Geradezu fahrlässig verschwiegen werden dagegen die Mühen der Ebene und erst recht die des Hangs, das spätestens nach zehn Minuten einsetzende Keuchen und Schwitzen, das – auch von de Selby nicht erklärte – Phänomen, 99 Prozent der Zeit gegen den Wind strampeln zu müssen. Wo sind die klappernden Schutzbleche und schleifenden Bremsen, die mangelnde Luft in den Reifen und die rostigen Ketten, die das Treten zur reinsten Mühsal machen; warum hat niemand in 200 Jahren den steten Verfall geschildert, dem das Fahrrad – wie der Mensch – ausgeliefert ist und der, hat man es am einen Ende repariert, am anderen schon wieder zuschlägt?
Dankbar sein muss man schon für einen klugen Nebensatz wie den von Walter Benjamin in »Berliner Kindheit um 1900«, es wäre »die Seligkeit, radeln gelernt zu haben, nicht so groß gewesen, wenn ich nicht damit neue Territorien mir erobert hätte«. Denn das ist das Fahrrad doch bestenfalls: Mittel zum Zweck.
Nur Größen wie Thomas Bernhard vermögen es, die Euphorie des ersten Radelns mit dem abgrundtiefen Scheitern, das man Leben nennt, in unmittelbaren Zusammenhang zu bringen. Dem »beispiellosen Hochgefühl« des Achtjährigen in dem autobiografisch geprägten Roman »Ein Kind«, der sich wie der »Herrscher der Welt« fühlt, weil er sich, während sein Vormund mit der deutschen Wehrmacht die Sowjetunion überfällt, auf dessen Steyr-Waffenrad davongemacht hat und die Füße einmal den Boden nicht berühren, folgen jäh der tiefe Fall in den Straßengraben, Inferno, Unheil, Züchtigung, Selbstmordgedanken.
Derlei Dramatik benötigt der unvergleichliche Flann O’Brien freilich nicht, um zu den wesentlichen Dingen zu gelangen; bei ihm geht es auch lakonisch: »So saßen wir eine Weile da, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, wobei er über sein Fahrrad nachdachte und ich über meinen Tod.«