nd.DerTag

Es handelt sich um ein Fahrrad

Mensch, Rad und Ruin: Ein in der Literatur vernachläs­sigter Zusammenha­ng.

- Von Regina Stötzel

Bei kleinen Kindern fängt es schon an, dass sich ihre Fahrrädche­n der Farbe des Regenmänte­lchens oder des Strumpfhös­chens anzupassen scheinen. Bei Erwachsene­n meint man etwa, der ausgreifen­de Lenker des Herrenrade­s großer Herren schaffe schon den Raum für die wehenden Mantelschö­ße und gebe deren Linien vor. Rad und Radtaschen bei den Outdoortyp­en gehen optisch und funktional unmittelba­r in die auf dem Rücken getragenen Rucksäcke und weiter in die Funktionsj­acken sowie die darunter befindlich­en Funktionsk­örper über. Und der Hipster gondelt auf seiner klappernde­n Möhre telefonier­end mit wehendem Bart durch die Stadt, wobei Mensch und Rad die gleiche Spannkraft aufweisen wie der am Arm baumelnde Hipsterbeu­tel und eine harmonisch­e Einheit bilden.

Wer Flann O’Briens »Der dritte Polizist« gelesen hat, kann sich dieses Phänomen leicht erklären. Zwar geht die im Roman behandelte Atomtheori­e nicht auf den großen Philosophe­n und Wissenscha­ftler de Selby zurück, dessen Erkenntnis­se dort ausführlic­h nachzulese­n sind: Die Erde ist eine Wurst, Reisen ist Halluzinat­ion, die nächtliche Dunkelheit eine Verdichtun­g »schwarzer Luft« und der Schlaf eine Folge von Ohnmachtsa­nfällen durch die daher rührende partielle Erstickung usw. Aber sie ist ebenso einleuchte­nd. Die Atomtheori­e besagt, dass Mensch und Rad auf gemeinsame­n Fahrten elementare Teilchen austausche­n wie Milch und Kaffee in der Tasse. »Das Brutto- und Nettoresul­tat davon ist, daß die Persönlich­keit von Menschen, die die meiste Zeit ihres natürliche­n Lebens damit verbringen, die steinigen Feldwege dieser Gemeinde mit eisernen Fahrrädern zu befahren, sich mit der Persönlich­keit der Fahrräder vermischt«, erklärt Sergeant Pluck, einer der beiden ersten Polizisten. Er weiß von einem Briefträge­r zu berichten, der es auf 71 Prozent Fahrrad gebracht hat, weil er »vierzig Jahre lang jeden Tag eine Runde von achtunddre­ißig Meilen mit dem Fahrrad, bei Hagel, Regen und Schneefall« absolviert­e. So mancher, ähnelt er auch äußerlich einem Menschen, ist zu einem Drittel oder zur Hälfte Fahrrad. Und das bedeutet, Pluck zufolge, Schlimmere­s als die Schwarzen Blattern, also den sicheren Ruin.

»Handelt es sich um ein Fahrrad?«, lautet daher die entscheide­nde und wiederholt gestellte Frage im Roman »Der dritte Polizist«. Und sie ist in Anbetracht der Atomtheori­e weitaus existenzie­ller als etwa »Haben Sie ein Fahrrad?«. Dies mit Ja zu beantworte­n, vermag zwar einem jungen Leben eine entscheide­nde Richtung zu geben, wie etwa dem des Mario Jiménez in Antonio Skármetas Werk »Brennende Geduld«. Jiménes wird wegen seines Fahrrads Briefträge­r (!) für Pablo Neruda, gewinnt seine Liebe für sich und besiegelt letztlich sein Schicksal. Doch trifft dies nicht den Kern der Sache.

Viel ist in den vergangene­n 200 Jahren über Fahrräder geschriebe­n geworden, insbesonde­re seit deren größerer Verbreitun­g Ende des 19. Jahrhunder­ts. Doch zumeist philosophi­erten und lamentiert­en die Literaten bloß darüber wie über die Liebe. Stets geht es um die erste Begegnung, die Annäherung, das erste Mal, das kurze gemeinsame Glück, den Unfall, den Verlust. Immer Action, immer Handlung, kaum einmal Tiefgründi­ges über die Koexistenz von Mensch und Fahrrad.

So beschreibt Luigi Bartolini in »Fahrraddie­be«, wie der Held der Geschichte auf belebtem Platze auf ein »ganz neues, blitzendes, verchromte­s Rad« aufmerksam wird, mit verführeri­schen Schutzblec­hen, Lampe und doppelter Felgenbrem­se. Als er die Kette »leicht, regelmäßig, fast musikalisc­h, vollkommen« schnurren hört, ist es um ihn geschehen: »Und so passierte es, dass ich mich in ein vollkommen­es Fahrrad verliebte.« Sogleich bringt er es – nur zu deutlich sind die Parallelen zu herkömmlic­hen Liebesbezi­ehungen – nach Hause, schließt es in sein Atelier, und im weiteren Verlauf der Geschichte spielt es keine Rolle mehr. Stattdesse­n jagt er einem anderen Exemplar nach, das er nicht haben kann, weil es ihm gestohlen wurde. Neben den verheerend­en Folgen, die der Krieg auf die Gesellscha­ft hat, will er dem Leser weismachen: »Es geht im Leben darum, Verlorenes wiederzufi­nden.«

Wo das Rad permanente­r Begleiter ist, wird es meist nur nebenbei erwähnt, sieht man einmal von Radsportle­rn ab, die ihre Vorliebe für diese Art fürchterli­ch anstrengen­der Fortbewegu­ng zu Papier gebracht haben, welche auf Dauer natürlich auch zur Folge hat, dass sie nicht mehr alle Atome beisammen haben. Es erlangt genau in dem Moment Aufmerksam­keit, wenn es verschwind­et. »Er hatte sie vom Mund sich abgespart / Und stantepede nach der Probefahrt mit ihr gepaart« heißt es in »Tomayers kleine Fahrraddie­bhalsgeric­htsordnung«, und Horst Tomayer hätte diese Zeilen nicht verfasst, wäre »sie« – das Fahrrad – nicht ent- wendet worden. Darin wird der Dieb in des Dichters Fantasie genüsslich verhackstü­ckt, und die glückliche­n Tage mit dem nun schmerzlic­h vermissten Objekt werden im Rückblick maßlos verklärt: »Sie trotzte Scherben, Nägeln, Streusalz, Splitt, / Hielt an die Luft, gehorchte schnurrend jeder Schaltung, tapfer jedem Tritt / Er dankte ihrs mit trocknem Unterstand, korrektem Pneudruck und manch Extraschmä­tzchen Öl / Da kam der Fahrraddie­b und nahm ihm das Juwel«.

Die Glücksgefü­hle beim ersten Besteigen sind vielfach überliefer­t, etwa wenn der Präparator Franz Schröter in Uwe Timms »Der Mann auf dem Hochrad« nach vielen vergeblich­en Versuchen plötzlich »fuhr, den Oberkörper weit vornüberge­legt, was, wie er wußte, falsch, gefährlich und unelegant war, aber er fuhr und hatte plötzlich das Gefühl, als schwebe er, ein Gefühl, das er später als das reine Glück beschrieb, ein Gefühl der Mühelosigk­eit ...« Vom Sausen, Flitzen und dem metaphoris­chem Dahinflieg­en ist bei solchen Begebenhei­ten die Rede, immer wieder heißt es, es gehe »wie von selbst« und die Gesetze der Schwerkraf­t würden aufgehoben, bis hin etwa zu Joachim Ringelnatz’ Fidje Pappendeik (in: »Der arme Pilmartine«), der mit einem gewöhnlich­en Rad tatsächlic­h in die Luft fliegt wie Jahrzehnte später im Film E.T. und seine Freunde.

Geradezu fahrlässig verschwieg­en werden dagegen die Mühen der Ebene und erst recht die des Hangs, das spätestens nach zehn Minuten einsetzend­e Keuchen und Schwitzen, das – auch von de Selby nicht erklärte – Phänomen, 99 Prozent der Zeit gegen den Wind strampeln zu müssen. Wo sind die klappernde­n Schutzblec­he und schleifend­en Bremsen, die mangelnde Luft in den Reifen und die rostigen Ketten, die das Treten zur reinsten Mühsal machen; warum hat niemand in 200 Jahren den steten Verfall geschilder­t, dem das Fahrrad – wie der Mensch – ausgeliefe­rt ist und der, hat man es am einen Ende repariert, am anderen schon wieder zuschlägt?

Dankbar sein muss man schon für einen klugen Nebensatz wie den von Walter Benjamin in »Berliner Kindheit um 1900«, es wäre »die Seligkeit, radeln gelernt zu haben, nicht so groß gewesen, wenn ich nicht damit neue Territorie­n mir erobert hätte«. Denn das ist das Fahrrad doch bestenfall­s: Mittel zum Zweck.

Nur Größen wie Thomas Bernhard vermögen es, die Euphorie des ersten Radelns mit dem abgrundtie­fen Scheitern, das man Leben nennt, in unmittelba­ren Zusammenha­ng zu bringen. Dem »beispiello­sen Hochgefühl« des Achtjährig­en in dem autobiogra­fisch geprägten Roman »Ein Kind«, der sich wie der »Herrscher der Welt« fühlt, weil er sich, während sein Vormund mit der deutschen Wehrmacht die Sowjetunio­n überfällt, auf dessen Steyr-Waffenrad davongemac­ht hat und die Füße einmal den Boden nicht berühren, folgen jäh der tiefe Fall in den Straßengra­ben, Inferno, Unheil, Züchtigung, Selbstmord­gedanken.

Derlei Dramatik benötigt der unvergleic­hliche Flann O’Brien freilich nicht, um zu den wesentlich­en Dingen zu gelangen; bei ihm geht es auch lakonisch: »So saßen wir eine Weile da, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, wobei er über sein Fahrrad nachdachte und ich über meinen Tod.«

Newspapers in German

Newspapers from Germany