nd.DerTag

Ritzelraus­chen

- Tom Strohschne­ider

Wie mir Olaf Ludwig 1980 die Friedensfa­hrt wegnahm.

Ich hab nicht viele Erinnerung­en an den Mai 1980. Man könnte sagen: keine. Es gibt nur eine Ausnahme, aber für diese Ausnahme fehlt ein Wort. Also muss ich eins erfinden: Tttsssccch­hrrr. Wahrschein­lich kennen Sie das auch, weil es aber kein Wort dafür gab, konnten wir uns bisher nie darüber unterhalte­n.

Worum es geht, ließe sich etwas umständlic­h als Ritzelraus­chen umschreibe­n. In meiner Erinnerung ist dieses Geräusch mit einer Enttäuschu­ng verbunden. Und schuld daran ist Olaf Ludwig. Ich kannte Olaf Ludwig damals natürlich, nicht persönlich, aber dem Namen nach – er war ja ein großer Star des Radsports. Wir haben damals bestimmt nicht »Star« gesagt. So wenig wie »Tttsssccch­hrrr«.

Ich war ein Dreikäseho­ch und hatte eine dieser Radfahrerm­ützen mit kurzem Schirm. Die Kappe war mir wichtig, und sicher musste meine Mutter mit mir darüber diskutiere­n, dass man solche Mützen nicht jeden Tag in der Schule aufsetzen kann. Weil man dort Ranzen trägt, nicht Radrennkap­pen. Weil auch Radfahrerm­ützen gewaschen werden müssen. Vernünftig­e Gründe also, die Mütter so vorbringen, die aber in so einen kleinen Kopf unter einer Rennfahrer­mütze nicht leicht hineindrin­gen.

In diesem lebte im Mai 1980 eine schillernd­e Vorstellun­g davon, wie eine Friedensfa­hrt aussieht. Nicht Schwarzwei­ß wie auf Zeitungsbi­ldern. Bunter, aufregende­r. Wenn man doch eine Etappe live verfolgen könnte! Direkt am Straßenran­d. Ich würde meine Rennfahrer­mütze mit dem kurzen Schirm aufsetzen und aussehen wie Olaf Ludwig!

Wir sagten damals natürlich nicht »live«, aber es kam der 16. Mai 1980 und die Etappe führte nach Berlin, die B1 entlang, Alt Mahlsdorf Richtung Zentrum, wo vor dem Kino Internatio­nal die Zieleinkun­ft lag. Ich wusste bis vor einigen Tagen nichts davon, weder dass Olaf Ludwig diese Etappe gewonnen hat, noch dass es einen dramatisch­en Kampf beim Endspurt gab, in dem Schachid Sagretdino­w und Pavel Galik den Kürzeren zogen. Ich wusste nicht einmal, dass es Fahrer mit diesen Namen gab. Rennen habe ich erst viele Jahre später wieder angesehen. Und nur noch im Fernsehen.

Daran ist Olaf Ludwig Schuld. Er hat den Traum eines kleinen Jungen von der Friedensfa­hrt platzen lassen, den Traum von einem bunten, imposanten, aufregende­n Rennen. Die Etappe nach Berlin würde natürlich mindestens drei Stunden andauern, ich war sicher. Was sie ja eigentlich auch tat. Genau vier Stunden, 47 Minuten und 23 Sekunden, wie ich heute weiß.

Aber die Wahrheit für den blonden Dreikäseho­ch am Ostberline­r Straßenran­d in jenem Mai 1980 war eine andere, sie kondensier­te in einem schrecklic­h kurzen Geräusch: Tttsssccch­hrrr. Ein paar lange Augenblick­e Ritzelraus­chen. Ein Fahrerfeld, zu schnell, um es mit den Augen eines Sechsjähri­gen zu fixieren, um zu sehen, ob die Rennfahrer auch so eine Mütze mit dem kurzen Schirm tragen. Ein paar Autos später war die Friedensfa­hrt für mich vorbei.

Ich habe im Archiv dieser Zeitung alles nachgelese­n. Olaf Ludwig hat es nach der Etappe erklärt: »Wir wollten das Feld zusammenha­lten, so dass erst auf der Karl-Marx-Alle die Entscheidu­ng fallen musste.« Ein vernünftig­er Grund, dem Olaf Ludwig seinen Etappensie­g vom 16. Mai 1980 verdankt. Ich aber verlor damals meine Friedensfa­hrt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany