Ritzelrauschen
Wie mir Olaf Ludwig 1980 die Friedensfahrt wegnahm.
Ich hab nicht viele Erinnerungen an den Mai 1980. Man könnte sagen: keine. Es gibt nur eine Ausnahme, aber für diese Ausnahme fehlt ein Wort. Also muss ich eins erfinden: Tttsssccchhrrr. Wahrscheinlich kennen Sie das auch, weil es aber kein Wort dafür gab, konnten wir uns bisher nie darüber unterhalten.
Worum es geht, ließe sich etwas umständlich als Ritzelrauschen umschreiben. In meiner Erinnerung ist dieses Geräusch mit einer Enttäuschung verbunden. Und schuld daran ist Olaf Ludwig. Ich kannte Olaf Ludwig damals natürlich, nicht persönlich, aber dem Namen nach – er war ja ein großer Star des Radsports. Wir haben damals bestimmt nicht »Star« gesagt. So wenig wie »Tttsssccchhrrr«.
Ich war ein Dreikäsehoch und hatte eine dieser Radfahrermützen mit kurzem Schirm. Die Kappe war mir wichtig, und sicher musste meine Mutter mit mir darüber diskutieren, dass man solche Mützen nicht jeden Tag in der Schule aufsetzen kann. Weil man dort Ranzen trägt, nicht Radrennkappen. Weil auch Radfahrermützen gewaschen werden müssen. Vernünftige Gründe also, die Mütter so vorbringen, die aber in so einen kleinen Kopf unter einer Rennfahrermütze nicht leicht hineindringen.
In diesem lebte im Mai 1980 eine schillernde Vorstellung davon, wie eine Friedensfahrt aussieht. Nicht Schwarzweiß wie auf Zeitungsbildern. Bunter, aufregender. Wenn man doch eine Etappe live verfolgen könnte! Direkt am Straßenrand. Ich würde meine Rennfahrermütze mit dem kurzen Schirm aufsetzen und aussehen wie Olaf Ludwig!
Wir sagten damals natürlich nicht »live«, aber es kam der 16. Mai 1980 und die Etappe führte nach Berlin, die B1 entlang, Alt Mahlsdorf Richtung Zentrum, wo vor dem Kino International die Zieleinkunft lag. Ich wusste bis vor einigen Tagen nichts davon, weder dass Olaf Ludwig diese Etappe gewonnen hat, noch dass es einen dramatischen Kampf beim Endspurt gab, in dem Schachid Sagretdinow und Pavel Galik den Kürzeren zogen. Ich wusste nicht einmal, dass es Fahrer mit diesen Namen gab. Rennen habe ich erst viele Jahre später wieder angesehen. Und nur noch im Fernsehen.
Daran ist Olaf Ludwig Schuld. Er hat den Traum eines kleinen Jungen von der Friedensfahrt platzen lassen, den Traum von einem bunten, imposanten, aufregenden Rennen. Die Etappe nach Berlin würde natürlich mindestens drei Stunden andauern, ich war sicher. Was sie ja eigentlich auch tat. Genau vier Stunden, 47 Minuten und 23 Sekunden, wie ich heute weiß.
Aber die Wahrheit für den blonden Dreikäsehoch am Ostberliner Straßenrand in jenem Mai 1980 war eine andere, sie kondensierte in einem schrecklich kurzen Geräusch: Tttsssccchhrrr. Ein paar lange Augenblicke Ritzelrauschen. Ein Fahrerfeld, zu schnell, um es mit den Augen eines Sechsjährigen zu fixieren, um zu sehen, ob die Rennfahrer auch so eine Mütze mit dem kurzen Schirm tragen. Ein paar Autos später war die Friedensfahrt für mich vorbei.
Ich habe im Archiv dieser Zeitung alles nachgelesen. Olaf Ludwig hat es nach der Etappe erklärt: »Wir wollten das Feld zusammenhalten, so dass erst auf der Karl-Marx-Alle die Entscheidung fallen musste.« Ein vernünftiger Grund, dem Olaf Ludwig seinen Etappensieg vom 16. Mai 1980 verdankt. Ich aber verlor damals meine Friedensfahrt.