Humpels Mahnmal
Ein Berliner wurde unfreiwillig Experte für Fahrraddiebstahl.
Wenn Jörg Humpel montags mit einer Tasse Tee durch seinen Garten geht, findet er regelmäßig zerstörte Fahrradschlösser. Diebe werfen sie achtlos über seinen Zaun, wenn sie wieder einmal ein Rad vom stählernen Parkbügel getrennt haben. Jenseits des Zaunes befinden sich die Fahrradstellplätze des Berliner S-Bahnhofes Rahnsdorf.
Irgendwann hat Humpel angefangen die Schlösser aufzubewahren. Sie sind Reliquien, letzte materielle Überreste der Beuteräder, die für die traurigen Besitzer meist auf ewig verloren sind. Schließlich türmte er den Schlösserhaufen in eine alte Schubkarre und stellte sie an seinen Gartenzaun. Dort mahnen sie all diejenigen, die hier täglich ihren stählernen Gefährten parken. Ein Denkmal für die oft viel zu kurzlebige Freundschaft zwischen Mensch und Fahrrad.
Der Rahnsdorfer Bahnhof liegt am Stadtrand und mitten im Wald. Das macht ihn für Raddiebe so attraktiv. Nur wenige Menschen wohnen hier in zwei ehemaligen Bahnbedienstetenhäusern – in relativer Eintracht mit Rehen und Wildschweinrotten. Jörg Humpel lebt seit 16 Jahren hier. Blaue Latzhose, markantes Brillengestell, lebhafter Blick. Ein Mann in den Fünfzigern, der immer mit den Händen gearbeitet hat, einer der weiß, wie man mit allerlei Materialien umgeht, ein Sammler und Bastler. Schon zu DDR-Zeiten hat er Fenster geputzt. Später dann im eigenen Einmannbetrieb, davon lebt er auch heute noch.
Humpel greift in seine Schubkarre und zieht ein dickes Schloss hervor, das augenscheinlich ohne nennenswerte Gegenwehr kapitulierte. Dann zeigt er auf ein solides Faltschloss einer bekannten Marke: »Dieses Schloss, ein richtig teures, wurde mit der Trenne geknackt.« Er wühlt weiter. »Für dieses hier reichte ein Seitenschneider, dieses wurde aufgedreht mit einem Knüppel.«
Täglich frühmorgens um fünf fängt der Bahnhof Rahnsdorf an, Hunderte von Pendlern und Pendlerinnen aus den schmucken Häusern der Dörfer Rahnsdorf, Woltersdorf und Schöneiche einzusaugen. Mit seiner Backsteinfassade, den bedachten Zinnen und grün lackierten Rundbogenfenstern ist es ein typischer Berliner Stadtrandbahnhof. Im Zehn-Minuten-Takt speist er die Menschen ein in die rotgelben Waggons. Kaufleute, Beamtinnen, Sozialarbeiterinnen, wenige Industriearbeiter, auch einige Studierende sind darunter.
Die Pendler und Pendlerinnen, die ihre Räder den eigens angelegten Stellflächen vor dem S-Bahnhof anvertrauen, klagen über immensen Schwund. Ein älterer Mann in Ar- beitsmontur wurde erst gestern beklaut. Er hat den Verlust noch nicht verdaut, noch kann er kaum drüber sprechen. Von zehn Angesprochenen haben sieben hier am Bahnhof schon zwei und mehr Räder verloren. Eine Frau meint, sie hole sich nur noch billige Fahrräder aus dem Internet. Das machen viele so und befeuern damit den Gebrauchtmarkt, der wiederum auch die Diebe nährt. Ein Mann freut sich, seit 20 Jahren den Dieben ein Schnippchen geschlagen zu haben. Er lässt sein Rad absichtlich verlottern und nutzt zwei gute Schlösser. Ein anderer montiert jedes Mal nach dem Parken die Sattelstange seines alten Lieblings ab.
Humpels Garten ist Landeplatz für hübsche Dinge – mitunter auch für ganz sonderbare. So nennt er zwei Außentanks des ausrangierten russischen Kampfjets MiG 29 sein Eigen, irgendwann wird er aus ihnen einen Katamaran bauen. Wenn er am Nachmittag in seinem Garten bastelt oder Beete pflegt, hört er es oft drüben vom Parkplatz rumoren. Dann späht er vorsichtig über die Mauer. Gerade war wieder ein Rad weggekommen.
Humpel beobachtet Männer, die geschäftig telefonierend zwischen den Rädern herumlaufen. Einen Riecher habe er inzwischen für die Typen. Diebe, die erst telefonieren, bevor sie zur Tat schreiten, sind seiner Meinung nach im Auftrag unter- wegs. »Die kennen sich aus, geben telefonisch durch, ich habe hier ein Rad von dieser Marke, mit jener Schaltung...« Typ 1, »der Profi«, klaut gerne am helllichten Tag, meint Humpel. Einmal sah er einen, der eben noch telefoniert hatte, mit einem Damenrad wegfahren. Am Nachmittag kam die Geschädigte und war ein bisschen sauer auf ihn, weil er nichts unternommen hatte. »Da stand diese Frau hier in Tränen und ich konnte mich leider nur an den Zaun stellen und sagen, ja, ich habe das heute morgen beobachtet.«
Früher alarmierte er noch regelmäßig die Polizei, doch das hat er inzwischen aufgegeben. Die näheren Dienstellen wurden längst dicht gemacht, das nächste Revier ist in Köpenick, von dort brauchen die Beamten 20 Minuten bis hier heraus. Solange wartet kein Dieb, sondern radelt in aller Ruhe durch den Wald davon. Humpel hat der Polizei früher sogar seinen Dachboden als Spähposten angeboten. Man ging nie darauf ein. Einbrüche, Schulwegsicherung, Fußballpokalspiele – die Polizei hat immer Wichtigeres zu tun. Deshalb hat Humpel den radelnden Pendlern von Rahnsdorf ein Angebot gemacht: Wer sein Rad sicher abstellen möchte, kann bei ihm einen Stellplatz hinterm abgeschlossenen Gartentor mieten. Zur Zeit hat er aber nur eine Kundin.
Typ 2 – »der Betrunkene« – klaut in der Nacht, weiß Humpel. »Das sind Jugendliche oder andere, die von der Disco kommen«, meint er. Seiner Meinung nach handelt es sich dabei um Partygänger aus den umliegenden Dörfern, die den letzten Bus oder die Trambahn verpasst haben und keine Lust haben zu warten. Typ 2 pflegt mangelhaft festgeschlossene Fahrräder von der Parkstange loszutreten. »Das Rad wird angekippt ins Schloss gelegt, ein fester Tritt gegen den Rahmen, das Teil springt auf. Zack, wie beim Karate«, schildert Humpel. Diese Sorte Gelegenheitsdiebstahl, da ist Humpel sicher, könne man mit der Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs bekämpfen.
Typ 3 ist besonders arm und unbeholfen, »der Asi-Penner«, wie ihn Humpel nennt: »Dann war da mal einer, der sich an so einer Fahrradleiche zuschaffen gemacht hat. Der wollte noch ein Stück Alu abmontieren und zum Schrott zu bringen.« Ausgerechnet da habe sich ein Passant aufgeregt und die Polizei hat den Unglücklichen mitgenommen. Empört unterbricht er sich selbst und winkt ab.
Wenn Jörg Humpel heute auf seiner Terrasse sitzt und es wieder poltert auf dem Fahrradstellplatz, kann er sich gut entspannen. Viele Passanten, die Fahrraddiebstähle wahrnehmen, schauen lieber weg, und auch Humpel mischt sich nicht mehr ein.