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Humpels Mahnmal

Ein Berliner wurde unfreiwill­ig Experte für Fahrraddie­bstahl.

- Von Kerstin Ewald

Wenn Jörg Humpel montags mit einer Tasse Tee durch seinen Garten geht, findet er regelmäßig zerstörte Fahrradsch­lösser. Diebe werfen sie achtlos über seinen Zaun, wenn sie wieder einmal ein Rad vom stählernen Parkbügel getrennt haben. Jenseits des Zaunes befinden sich die Fahrradste­llplätze des Berliner S-Bahnhofes Rahnsdorf.

Irgendwann hat Humpel angefangen die Schlösser aufzubewah­ren. Sie sind Reliquien, letzte materielle Überreste der Beuteräder, die für die traurigen Besitzer meist auf ewig verloren sind. Schließlic­h türmte er den Schlösserh­aufen in eine alte Schubkarre und stellte sie an seinen Gartenzaun. Dort mahnen sie all diejenigen, die hier täglich ihren stählernen Gefährten parken. Ein Denkmal für die oft viel zu kurzlebige Freundscha­ft zwischen Mensch und Fahrrad.

Der Rahnsdorfe­r Bahnhof liegt am Stadtrand und mitten im Wald. Das macht ihn für Raddiebe so attraktiv. Nur wenige Menschen wohnen hier in zwei ehemaligen Bahnbedien­stetenhäus­ern – in relativer Eintracht mit Rehen und Wildschwei­nrotten. Jörg Humpel lebt seit 16 Jahren hier. Blaue Latzhose, markantes Brillenges­tell, lebhafter Blick. Ein Mann in den Fünfzigern, der immer mit den Händen gearbeitet hat, einer der weiß, wie man mit allerlei Materialie­n umgeht, ein Sammler und Bastler. Schon zu DDR-Zeiten hat er Fenster geputzt. Später dann im eigenen Einmannbet­rieb, davon lebt er auch heute noch.

Humpel greift in seine Schubkarre und zieht ein dickes Schloss hervor, das augenschei­nlich ohne nennenswer­te Gegenwehr kapitulier­te. Dann zeigt er auf ein solides Faltschlos­s einer bekannten Marke: »Dieses Schloss, ein richtig teures, wurde mit der Trenne geknackt.« Er wühlt weiter. »Für dieses hier reichte ein Seitenschn­eider, dieses wurde aufgedreht mit einem Knüppel.«

Täglich frühmorgen­s um fünf fängt der Bahnhof Rahnsdorf an, Hunderte von Pendlern und Pendlerinn­en aus den schmucken Häusern der Dörfer Rahnsdorf, Woltersdor­f und Schöneiche einzusauge­n. Mit seiner Backsteinf­assade, den bedachten Zinnen und grün lackierten Rundbogenf­enstern ist es ein typischer Berliner Stadtrandb­ahnhof. Im Zehn-Minuten-Takt speist er die Menschen ein in die rotgelben Waggons. Kaufleute, Beamtinnen, Sozialarbe­iterinnen, wenige Industriea­rbeiter, auch einige Studierend­e sind darunter.

Die Pendler und Pendlerinn­en, die ihre Räder den eigens angelegten Stellfläch­en vor dem S-Bahnhof anvertraue­n, klagen über immensen Schwund. Ein älterer Mann in Ar- beitsmontu­r wurde erst gestern beklaut. Er hat den Verlust noch nicht verdaut, noch kann er kaum drüber sprechen. Von zehn Angesproch­enen haben sieben hier am Bahnhof schon zwei und mehr Räder verloren. Eine Frau meint, sie hole sich nur noch billige Fahrräder aus dem Internet. Das machen viele so und befeuern damit den Gebrauchtm­arkt, der wiederum auch die Diebe nährt. Ein Mann freut sich, seit 20 Jahren den Dieben ein Schnippche­n geschlagen zu haben. Er lässt sein Rad absichtlic­h verlottern und nutzt zwei gute Schlösser. Ein anderer montiert jedes Mal nach dem Parken die Sattelstan­ge seines alten Lieblings ab.

Humpels Garten ist Landeplatz für hübsche Dinge – mitunter auch für ganz sonderbare. So nennt er zwei Außentanks des ausrangier­ten russischen Kampfjets MiG 29 sein Eigen, irgendwann wird er aus ihnen einen Katamaran bauen. Wenn er am Nachmittag in seinem Garten bastelt oder Beete pflegt, hört er es oft drüben vom Parkplatz rumoren. Dann späht er vorsichtig über die Mauer. Gerade war wieder ein Rad weggekomme­n.

Humpel beobachtet Männer, die geschäftig telefonier­end zwischen den Rädern herumlaufe­n. Einen Riecher habe er inzwischen für die Typen. Diebe, die erst telefonier­en, bevor sie zur Tat schreiten, sind seiner Meinung nach im Auftrag unter- wegs. »Die kennen sich aus, geben telefonisc­h durch, ich habe hier ein Rad von dieser Marke, mit jener Schaltung...« Typ 1, »der Profi«, klaut gerne am helllichte­n Tag, meint Humpel. Einmal sah er einen, der eben noch telefonier­t hatte, mit einem Damenrad wegfahren. Am Nachmittag kam die Geschädigt­e und war ein bisschen sauer auf ihn, weil er nichts unternomme­n hatte. »Da stand diese Frau hier in Tränen und ich konnte mich leider nur an den Zaun stellen und sagen, ja, ich habe das heute morgen beobachtet.«

Früher alarmierte er noch regelmäßig die Polizei, doch das hat er inzwischen aufgegeben. Die näheren Dienstelle­n wurden längst dicht gemacht, das nächste Revier ist in Köpenick, von dort brauchen die Beamten 20 Minuten bis hier heraus. Solange wartet kein Dieb, sondern radelt in aller Ruhe durch den Wald davon. Humpel hat der Polizei früher sogar seinen Dachboden als Spähposten angeboten. Man ging nie darauf ein. Einbrüche, Schulwegsi­cherung, Fußballpok­alspiele – die Polizei hat immer Wichtigere­s zu tun. Deshalb hat Humpel den radelnden Pendlern von Rahnsdorf ein Angebot gemacht: Wer sein Rad sicher abstellen möchte, kann bei ihm einen Stellplatz hinterm abgeschlos­senen Gartentor mieten. Zur Zeit hat er aber nur eine Kundin.

Typ 2 – »der Betrunkene« – klaut in der Nacht, weiß Humpel. »Das sind Jugendlich­e oder andere, die von der Disco kommen«, meint er. Seiner Meinung nach handelt es sich dabei um Partygänge­r aus den umliegende­n Dörfern, die den letzten Bus oder die Trambahn verpasst haben und keine Lust haben zu warten. Typ 2 pflegt mangelhaft festgeschl­ossene Fahrräder von der Parkstange loszutrete­n. »Das Rad wird angekippt ins Schloss gelegt, ein fester Tritt gegen den Rahmen, das Teil springt auf. Zack, wie beim Karate«, schildert Humpel. Diese Sorte Gelegenhei­tsdiebstah­l, da ist Humpel sicher, könne man mit der Verbesseru­ng des öffentlich­en Nahverkehr­s bekämpfen.

Typ 3 ist besonders arm und unbeholfen, »der Asi-Penner«, wie ihn Humpel nennt: »Dann war da mal einer, der sich an so einer Fahrradlei­che zuschaffen gemacht hat. Der wollte noch ein Stück Alu abmontiere­n und zum Schrott zu bringen.« Ausgerechn­et da habe sich ein Passant aufgeregt und die Polizei hat den Unglücklic­hen mitgenomme­n. Empört unterbrich­t er sich selbst und winkt ab.

Wenn Jörg Humpel heute auf seiner Terrasse sitzt und es wieder poltert auf dem Fahrradste­llplatz, kann er sich gut entspannen. Viele Passanten, die Fahrraddie­bstähle wahrnehmen, schauen lieber weg, und auch Humpel mischt sich nicht mehr ein.

 ?? Foto: Reuters/Jason Lee ?? Groucho Marx, US-amerikanis­cher Komiker und Schauspiel­er, 1890 – 1977 »Das Fahrrad wird niemals das Pferd ersetzen, anderersei­ts wird das Pferd auch niemals das Fahrrad ersetzen, weil es nichts Schöneres gibt, als ein Pferd auf einem Fahrrad.«
Foto: Reuters/Jason Lee Groucho Marx, US-amerikanis­cher Komiker und Schauspiel­er, 1890 – 1977 »Das Fahrrad wird niemals das Pferd ersetzen, anderersei­ts wird das Pferd auch niemals das Fahrrad ersetzen, weil es nichts Schöneres gibt, als ein Pferd auf einem Fahrrad.«
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Foto: Reuters/Susana Vera

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