Der clevere Wegeheld
Heinrich Strößenreuther veränderte mit Aktivisten die Radverkehrspolitik in Berlin.
In der Hauptstadt tobt der Verteilungskampf darüber, wie viel Raum Fußgängern, Radlern, Bussen und Bahnen sowie Autos künftig eingeräumt werden soll. Und zwar nicht mehr nur konkret täglich auf der Straße selbst, sondern auf politischer Ebene. Anfang April dieses Jahres hatte die Verwaltung von Berlins Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne) die Eckpunkte eines Fahrradgesetzes vorgelegt. Ein lückenloses Netz von geschützten Radwegen an Hauptstraßen, 100 Kilometer Radschnellwege und zusätzlich 100 000 Abstellplätze für Zweiräder an U- und SBahnhöfen gehören dazu.
Rot-Rot-Grün in Berlin betreibe »Klientelpolitik«, sei eine »Koalition von Autohassern«. Dies attestiert die in diesem Punkt sehr einige Opposition aus CDU, AfD und FDP. Der christdemokratische Fraktionschef Florian Graf malte im April im Abgeordnetenhaus einen Zusammenbruch der Versorgung der Hauptstadt an die Wand, weil der Senat ja schließlich Güter nur noch per Lastenfahrrad transportieren lassen wolle.
»In Summe schießen CDU und FDP aber nicht mehr so scharf«, sagt Heinrich Strößenreuther. Und: »Wenn die CDU in Großstädten noch etwas werden will, muss sie offensiv aufs Fahrrad setzen.« Dieser Mann hat maßgeblichen Anteil daran, dass mit dem neuen Radgesetz ein Ausbau der Veloinfrastruktur in der Hauptstadt verbindlich fixiert wird, wenn es bis zum Jahresende als Teil eines umfassenden Mobilitätsgesetzes verabschiedet wird. Innerhalb kürzester Zeit sammelte er mit vielen Mitstreitern im Sommer 2016 über 100 000 Unterschriften.
Letztlich hatten die Grünen damit ihr Wahlkampfthema zur Abgeordnetenhauswahl im vergangenen Jahr. Mit der öffentlichen Debatte, die sich entzündete, konnten die Aktivisten den damaligen SPD-Verkehrssenator Andreas Geisel regelrecht vor sich hertreiben. Zwar hatte der rotschwarze Senat eine Fahrradstrategie verabschiedet, die auch Strößenreuther als »gar nicht mal so schlecht« bezeichnete, aber konkret passierte nichts. Ein paar Millionen Euro waren jährlich für den Ausbau der Fahrradinfrastruktur vorgesehen, tatsächlich verbaut wurde nur ein Teil. Die paralysierte Berliner Verwaltung war einfach nicht imstande, das Geld auszugeben. Künftig soll eine eigene Gesellschaft namens Infra Velo sich um den Ausbau kümmern
Die Saat dafür hat Heinrich Strößenreuther bereits vor vier Jahren gelegt. Im Herbst 2013 nahm die deutsche und Berliner Öffentlichkeit erstmals Kenntnis von seiner Existenz. Da fing Strößenreuther an, Geld für sein Projekt »Straßensheriff« zu sammeln. Das kleine Programm für Smartphones sollte es ganz einfach machen, Falschparker anzuzeigen. Foto mit dem Handy machen und die App schickt eine E-Mail mit der Anzeige und den GPS-Koordinaten direkt an das Ordnungsamt.
»Über diesen doppelten Tabubruch in Ost und West wollte jeder Journalist berichten«, erinnert sich Strößenreuther und strahlt. Beförderung des Denunziantentums lautete der oft zu hörende Vorwurf damals. Andererseits fanden nicht wenige Radler und Fußgänger den Gedanken reizvoll, der Ignoranz falsch parkender Autofahrer etwas entgegenzusetzen. »Wir hatten Aufmerksamkeit auf den Flächenkonflikt und die vollkommene Reduzierung der Verkehrsmoral gelenkt«, erinnert sich der Fahrradaktivist. Der Name der App wurde schließlich in »Wegeheld« entschärft und statt einer Anzeige gibt es den virtuellen Pranger auf einer Online-Karte – ohne Foto und Nummernschild.
Dass er sich mit der App einen durchaus zweifelhaften Ruf erworben hatte, nahm Strößenreuther in Kauf: »Immerhin habe ich darüber den Kontakt zur Professorin Ines Carstensen bekommen, zusammen haben wir einen Report über die Flächengerechtigkeit auf den Straßen erarbeitet.« Nur drei Prozent der Straßenfläche, so das Ergebnis, ist für Radler reserviert, obwohl sie 15 Pro- zent der Wege zurücklegten. »Es ist nicht einzusehen, dass Autofahrern 20 mal mehr Verkehrsflächen als Radfahrern zugestanden werden, obwohl in der Berliner Umweltzone längst mehr Wege mit dem Rad als mit dem Auto zurückgelegt werden«, sagt Strößenreuther.
Bereits im Mai 2014 machte der Aktivist mit seiner Initiative »Clevere Städte« darauf aufmerksam, dass Falschparken in Deutschland 75 Prozent billiger ist als im EU-Durchschnitt. Eine Petition an den Bundestag wurde initiiert. »Das Projekt war allerdings nicht so erfolgreich«, räumt er ein. Doch Strößenreuther war Profi genug, sich von einem Fehlschlag nicht entmutigen zu lassen. In den 1990er Jahren arbeitete als sogenannter Campaigner. Aufmerksamkeit schaffen für die Anliegen der Umweltorganisation Greenpeace, das war damals sein Job. Unter anderem für die Ökosteuer trommelte er damals. Auch als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestags hat er gearbeitet, in der Nachahltigkeits-Enquete-Kommission »Schutz des Menschen und der Umwelt«.
Heinrich Strößenreuther engagiert sich früh. 1989 begründete er die »Studenteninitiative Wirtschaft und Umwelt« an der Uni Mannheim. Er selbst studierte damals Wirtschaftsinformatik mit dem Schwerpunkt Verkehr und Logistik. »Nachhaltigkeitsthemen haben da nicht so eine Rolle gespielt«, erinnert er sich.
Später arbeitete er bei der Deutschen Bahn (DB), war unter anderem für stilllegungsbedrohte Strecken zuständig. Frustrierend war das nicht. »Wir konnten häufig zeigen, dass einfach schlechtes Management der Grund für die Probleme war – und Strecken retten«, so Strößenreuther. In einem anderen Projekt wurde Lokführern energiesparende Fahrweise beigebracht. »Zum Beispiel mal einen Zug ausrollen lassen, wenn genug Puffer ist«, erklärt er. Die DB spart seitdem jährlich viele Millionen Euro Energiekosten, der Umwelt werden Kohlendioxidemissionen erspart.
»Bei mir fiel der Groschen endgültig, als ich für Hamburg 2009 ein Klimaschutzkonzept für den Verkehr ausgearbeitet hatte«, sagt Strößenreuther. Klimaziele ließen sich nur erreichen, wenn Verkehrsbedürfnisse massiv aufs Fahrrad verlagert werden und wir Politiker helfen, den Flächenkonflikt Radwege statt Parkplätze durchzustehen »Der Klimawandel ist eine der schlimmsten Bedrohungen der Menschheit«, erklärt er ernst.
Während der Kampagne für den Radentscheid waren er und seine Mitstreiter aktiv bis zur Penetranz. Sie blockierten Straßen mit ihren Rädern, hielten Mahnwachen für im Verkehr getötete Radler ab, parkten mit Zweirädern in der zweiten Reihe, sprangen mit Rädern in die Spree, als der Volksentscheid durch Verschleppung des Senats baden zu gehen drohte. »Nach dem Tod von Udo Jürgen habe ich die Begrenzung des Fahrradwegs mit Sahne auf dort parkende Autos gesprüht«, erinnert sich Strößenreuther. »Die Cabrio-Fahrerin fuhr beschämt von dannen und wird es nie wieder tun«, berichtet er verschmitzt lachend
Auch nach Verabschiedung des Radgesetzes wird der Aktivist sich nicht zurücklehnen. »Wir werden ein rotes Telefon schalten, wo Bezirksbürgermeister sich an uns wenden können, wenn wegen zehn wegfallenden Parkplätzen die Volksseele kocht«, kündigt er an. Außerdem will er Bürger in anderen Städten unterstützen, die Bürgerbegehren für bessere Bedingungen für Radler anschieben wollen. Aktuell kandidiert er für die Vollversammlung der Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK). »Damals hat die IHK sich in einer Pressemitteilung gegen den Volksentscheid ausgesprochen«, sagt Strößenreuther. »Dort muss das Thema Nachhaltigkeit verankert werden.«
Einen Gang in die Politik will Strößenreuther nicht grundsätzlich ausschließen. »Aber die Ochsentour über den Ortsverein ist nicht mein Ding«, sagt er. »Die Jungs mit den Excel-Tabellen waren während des Studiums einfach spannender als Stammtisch und Plakate kleben.«
Während der Kampagne für den Berliner Radentscheid waren Strößenreuther und seine Mitstreiter aktiv bis zur Penetranz. Sie blockierten Straßen mit ihren Rädern, hielten Mahnwachen für im Verkehr getötete Radler ab, parkten mit Zweirädern in der zweiten Reihe und sprangen mit Rädern in die Spree, als der Volksentscheid durch Verschleppung des Senats baden zu gehen drohte.