Homo mobile
Warum muss die Menschheit das Rad immer wieder neu erfinden?
Nicht selten in der Geschichte erfolgten Erfindungen und Entdeckungen zeitgleich in verschiedensten Regionen der Erde, was zu widersprechenden Angaben in der Literatur und in jüngerer Vergangenheit zuweilen zu Rechtsstreitigkeiten führte.
Wer erfand als erster die Glühlampe oder das Telefon, und wer stellte erstmals ein Periodensystem der Elemente auf? Die Erleuchtung mit der Birne reklamierte Thomas Alva Edison für sich, obwohl über 40 Jahre vor ihm, 1835, der Schotte James Bowman Lindsay eine solche präsentierte und fünf Jahre vor dem US-Amerikaner der Russe Alexander Lodygin ein Patent auf diese anmeldete. Auch das Telefon verdankt sich mehreren Vätern, darunter dem deutschen Mathematik- und Physiklehrer Philipp Reis. Als Erfinder wird indes zumeist Alexander Graham Bell genannt, der seinen Kasten 1876 in Boston zum Klingeln brachte. Die chemischen Elemente wurden 1869 unabhängig voneinander zunächst von Dmitri Mendelejew in Russland und kurz darauf von Lothar Meyer in Deutschland sortiert.
Johannes Gutenberg war nicht der erste Buchdrucker. Auf diese Kunst verstand man sich bereits im 8. Jahrhundert in Ostasien. Und nicht die Bayern erfanden das Bier, was allein die indogermanische Wurzel »bhreu« fürs Brauen verrät. Vieltausend Jahre bevor Herzog Wilhelm IV. 1516 das Reinheitsgebot dekretierte, haben sich die alten Mesopotamier und Ägypter das gegärte Getränk munden lassen. Das älteste überlieferte Bierrezept ist 5000 Jahre alt und stammt aus China. Einen Gleitflugapparat entwarf drei Jahrhunderte vor Flugpionier Otto Lilienthal das Universalgenie Leonardo da Vinci. Und so weiter und so fort.
Ob Karl Drais mit seiner Laufmaschine wirklich der erste Mensch war, der auf die Idee kam, sich zwei Räder zwischen die Beine zu klemmen, ist demnach auch fraglich. Vielleicht gab es schon im Altertum einen solchen Schlaumeier? Viel Wissen ist im Laufen der Zeiten verloren gegangen oder wurde ignorant-arrogant von Barbaren, Orthodoxen, Fundamentalisten vernichtet und musste mühselig wiedergewonnen werden.
Wer in der Menschheitsgeschichte das allererste Rad, ohne das kein Fahrrad »läuft«, erfand, ist ungewiss. Dieses höchst praktische Ergebnis menschlichen Einfallsreichtums – dessen Wortstamm sich aus dem lateinischen »rota« herleitet, das wiederum mit dem Sanskrit-Wort »ratha« verwandt ist – ist jedenfalls schon für das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris im 4. Jahrtausend v. u. Z. nachgewiesen. Als Wasserund Windrad genutzt, an von Menschen, Eseln oder Stieren gezogenen Karren befestigt, erlebte es einen zweifelhaften Siegeszug an kriegerischen Streitwagen sowie zum Transport schwerer Geschütze in mörderische Schlachten. Die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts be- scherte uns das Dampfrad, übrigens zeitgleich von britischen, französischen, US-amerikanischen und deutschen Tüftlern entwickelt. Der Daimler-Reitwagen von 1885 mit Verbrennungsmotor war ein Vorläufer des Motorrads, obwohl er eher noch einem Fahrrad ähnelte.
Die ebenfalls mit der industriellen Revolution massenhaft Anwendung findenden Zahnräder waren bereits bei den Assyrern in Gebrauch, einem kriegerischen Volk, das oft die Reichtümern der Nachbarvölker begehrte und sich einverleibte, aber durchaus auch eigene kulturelle Leistungen erbrachte. Sogar Aristoteles beschrieb 330 v. u. Z. Zahnräder. Und die von mittelalterlichen arabischen Mechanikern gefertigten raffinierten Spielautomaten begeisterten morgen- wie abendländische Herrscher.
Warum jedoch muss die Menschheit das sprichwörtliche Rad stets neu erfinden? Warum ist sie scheinbar dazu verdammt, immer wieder, in jeder Generation aufs Neue, bittere Er- fahrungen zu durchleiden, die gleichen Dummheiten, Idiotien, Verbrechen zu begehen, zivilisatorische Fortschritte stetig neu erkämpfen zu müssen, um sie alsbald wieder zu vergessen, zu verdrängen? Beispielsweise im Rechtsdenken. Die Gebote Moses’ »Du sollst nicht töten« und »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Hof, Vieh und alles, was sein ist«, sanktioniert im Kodex des babylonischen Königs Hammurapi im 18. Jahrhundert v. u. Z., der ältesten, erhaltenen Rechtssammlung, und fortan in allen Gesetzwerken der Völker und Nationen fixiert, zeitigen bis heute keine nachhaltige Wirkung. Das 1928 als Lehre aus dem Ersten Weltkrieg im Briand-Kellog-Pakt kodifizierte Gewalt- und Aggressionsverbot, von über 50 Staaten signiert, hat den Zweiten Weltkrieg nicht verhindert. Ebenso wenig die Ächtung von Kriegen in der UN-Charta 1945 neuerliche Militärinterventionen. Die Menschheit scheint in einem Hamsterrad gefangen. Homo mobile.