Löwenzahn im Schnee und Zittern in den Knien
Beim Rennrad-Frühjahrsauftakt im Allgäu erlebt und notiert.
Der Atem wechselt vom Hecheln ins Röcheln, der Puls rast nicht nur, sondern schießt hoch. 160, 170, 180 Watt. »Machen wir Schluss. Für die Energiestoffwechseldiagnostik reicht das erst einmal, bist ganz gut in Schuss«, lobt Wolfgang Sommer und lächelt freundlich. »Ob das auch für die Tour morgen so gilt, werden wir ja sehen.«
Diese Anmerkung versucht der Chronist schnell zu verdrängen, doch eine leichte Irritation bleibt. Wolfgang, Mitte 50, ist schließlich kein Arzt, sagt er sich, sondern Rennradler aus Passion, dazu Chef des familiengeführten »Hotel Sommer«. Besagter Test gehört zu seinem Service, denn er hat sein Haus zu einer der ersten und besten Allgäuer Adressen für Radsportler gemacht. Herrlich gelegen am Stadtrand von Füssen, nahe dem Festspielhaus, direkt am Forggen-(Stau)See, gegenüber am anderen Ufer winkt Schloss Neuschwanstein.
Zum Allgäuer Rennradauftakt Ende April ist bei Sommers alles ausgebucht. So wie bei seinem etwa gleichaltrigen Freund, Radsportkumpel und Tourismus-Mitwettbewerber Hans-Georg Kaufmann. Der hat ein paar Kilometer weiter im Dorf Roßhaupten ein vergleichbares Haus, eben das »Hotel Kaufmann« gebaut. Wolfgang und Hans-Georg werden unsere kleine Gruppe am morgigen ersten Tag begleiten. Eine junge Frau und sechs Männer zwischen 25 und 71. Angesagt sind etwas mehr als 100 Kilometer: von Füssen (rund 800 m hoch gelegen) im Vorland der Ammergäuer Alpen immer nordöstlich bis nach Hohen- peißenberg (etwa 950 m) und zurück.
Die beiden Höhenangaben für sich genommen klingen ja nicht sehr spektakulär. Vom den vielen Auf und Ab dazwischen ist am Abend zuvor nicht die Rede in der Gruppe. Die ist vielmehr auf ein aufziehendes Naturschauspiel fixiert. Am Nachmittag hatte es angefangen zu schneien. Am morgigen Starttag soll nun laut Wetterbericht wieder Milde und Sonne walten. Das verspricht erfrischendes Rollen auf inzwischen abgetauten Radwegen und Straßen. Und zwar über weite, sanft wellige Wiesen, auf denen noch der jungfräuliche Schnee liegt, durch den wiederum Myriaden von Löwenzahnblüten ihre knallgelben Köpfe stecken.
So viel Radrennromantik mag manchem, wenn er Allgäu hört, als weit überzogen erscheinen. Ja, vielleicht noch Mountainbike für Spezialisten oder E-Bike für fußmüde Wanderer. Aber ansonsten fallen bei Allgäu vielen Flachlandtirolern zuerst alpines Skifahren ein, schroffe Gipfel und unter diesen schwer zugänglich hier und da eine Alp. Dies alles gibt es zwar auch. Doch touristisch war und ist das Allgäu vor allem, nämlich sogar zu 80 Prozent ein Sommerurlaubs- und Kurgebiet. Er ist zwar schon recht hoch gelegen, doch letztlich vor allem Alpenvorland.
Das alles wurde in den letzten Jahren auch mehr und mehr zu einem tollen Radterrain ausgebaut: 4000 Kilometer beschilderte und selbstredend auch gut kartographierte Strecke mit 200 vorgeschlagenen Routen fürs Alltagsrad bis zum E-Bike. Rund 50 Routen bieten sich für Mountain- biker an (u.a. die bei Oberstdorf mit durchgehenden 890 Höhenmetern). Elf schließlich wenden sich speziell an Rennradler. Darunter die Forggensee-»Dampflok«-Runde (111 km) bei Füssen, größtenteils auf alten, aufgelassenen und ausgebauten Bahntrassen verlaufend. Oder etwas nördlicher die Auerberg-Wertach-Runde (101 km) mit dem Auerberg (14 Prozent Steigung, 1056 m hoch) sowie mit der Wertachhalde (16 Prozent) – summa summarum fast 2000 Höhenmeter.
Womit wir wieder beim ersten Tag unserer Rennrad-Frühlingsauftakttour wären. Sommer und Kaufmann haben sich einen mittleren Schwierigkeitsmix ausgedacht.
Die Euphorisierung der kleinen Truppe steigt schnell und spürbar. Das Tacho pendelt immer öfter an die 30er Marke. Nach gut 30 Kilometern ist das dann zu viel für die junge Dame, Amateurtriathletin, aber, weil verschnupft, nicht in bester Verfassung, sowie für den Übersiebziger, nämlich den Chronisten. Der hat es zwar nicht in der Nase, dafür beginnen ihm bei diesem Tempo bergan zunehmend die Knie zu zittern.
Der beiden nimmt sich nun Stefan Fredlmeier an, der ebenfalls mit von dieser Samstagpartie ist, ansonsten im Alltag als Tourismus- und Marketingchef der Stadt Füssen tätig. Das Tempo etwas rausgenommen bzw. temperiert, und schon rollt das neue Trio ohne abreißen zu lassen auf eine Abkürzungsroute in etwas flachere Gefilde. Letztendlich sind es, wieder »zu Hause« angekommen, auch um die 70 Kilometer. Die anderen treffen eine gute Stunde später ein, rundum glücklich, aber eben mit weniger Zeit fürs Schwimmen und Sauna vor dem Abendbrot.
Begonnen hat die moderne Radelei im Allgäu etwa so, wie es Peter Beck schildert. »Als ich 1981 die erste organisierte Ausfahrt mit meinen Gästen gemacht habe, holten die meisten noch ihre Klappräder aus dem Kofferraum.« Beck, inzwischen 75, hatte mit 15 Jahren begonnen, Rennrad zu fahren, und er kultivierte das dann auch in seiner Zeit als Leiter des Gästeamtes Wangen. Für das Klapprad hat sich übrigens bis heute in der Gegend eine kleine witzige Nische gehalten, nämlich die KlappradWeltmeisterschaft, die da alljährlich stattfindet. »Ein Riesengaudi«, meint Peter Beck, das diesjährige steigt am 17. Juni in Pfronten.
Doch es gibt im Allgäu auch noch ganz andere Radinnovationen. Etwa beim 32-jährigen Florian Hipp in Füssen. Der hat seine Wohnung vor einiger Zeit zu einer Ein-Mann-Manufaktur umgekrempelt. Er verwandelt alte Rennräder in piekfeine Fixies der Eigenmarke »Starrgang«. Dazu zerlegt er die Rahmen alter Rennräder bis auf die Rohre, lötet sie dann wieder hart zusammen und lässt sie weiter bis zur ersten Ausfahrt all die traditionellen Technologien durchlaufen, die bis in die 50er/60er Jahre üblich waren. »Meine Idee ist es, das Rad zurück zu seinen Wurzeln zu drehen. Und zwar nachhaltig, wie es auch meinem sonstigen Lebensstil entspricht. Aus alt mach neu. Ohne jeden Schnickschnack, allerdings mit unkaputtbaren Materialien, die später so gut wie keine Pflege mehr brauchen«, sagt der gelernte Feinmechaniker.
Jedes Teil ist natürlich Einzelanfertigung auf Kundenwunsch, Preis ab unter 1000 Euro. Das große Geschäft ist das für Florian indes längst (noch?) nicht. Aber selbst in Füssen hat er schon fünf Exemplare verkauft. Man bedenke: Es handelt sich bei Fixies immerhin um Räder ohne Freilauf, Schaltung und Bremse, die nun in einer Stadt direkt am Fuße der Alpen getreten werden. Ein bisschen verrückt? Das ist Ansichtssache. Florian findet es verrückter, vor allem gefährlicher, wie in Berlin die Fixies durchs Flachland flitzen.
Dieser Radtyp spielte übrigens beim Allgäuer Rennrad-Frühlingsauftakt selbst eine zu vernachlässigende Rolle. Die Rede kam nur einmal ganz kurz auf ihn, als der Chronist eines Abends beim Fachsimpeln sein zu Hause gebliebenes Rennrad erwähnte: ein englisches Raleigh Pulsar, Baujahr 1985, mit Sticker aerospace-contour am Rahmen. Damals war es der letzte Schrei der Technik. Die jungen Leute in der Runde waren ganz entzückt, zumal Rennradretro momentan stark angesagt ist. Die Älteren rieten ihm indes, dieses gute Stück lieber der »Starrgang«Manufaktur als Rohmaterial zu spenden.
Er zögert jedoch nach einem Blick ins Internet vorerst. Auch sein Oldiemodell erlebt da gerade einen rasanten Sympathiezuwachs. Und im übrigen braucht er keinen neuen Renner, zumindest nicht fürs Allgäu. Denn Wolfgang Sommer beispielsweise hat so viele der neuesten Modelle in seiner Hotelkellergarage, dass er sie liebend gern an Gäste verleiht.