nd.DerTag

Löwenzahn im Schnee und Zittern in den Knien

Beim Rennrad-Frühjahrsa­uftakt im Allgäu erlebt und notiert.

- Von Michael Müller

Der Atem wechselt vom Hecheln ins Röcheln, der Puls rast nicht nur, sondern schießt hoch. 160, 170, 180 Watt. »Machen wir Schluss. Für die Energiesto­ffwechseld­iagnostik reicht das erst einmal, bist ganz gut in Schuss«, lobt Wolfgang Sommer und lächelt freundlich. »Ob das auch für die Tour morgen so gilt, werden wir ja sehen.«

Diese Anmerkung versucht der Chronist schnell zu verdrängen, doch eine leichte Irritation bleibt. Wolfgang, Mitte 50, ist schließlic­h kein Arzt, sagt er sich, sondern Rennradler aus Passion, dazu Chef des familienge­führten »Hotel Sommer«. Besagter Test gehört zu seinem Service, denn er hat sein Haus zu einer der ersten und besten Allgäuer Adressen für Radsportle­r gemacht. Herrlich gelegen am Stadtrand von Füssen, nahe dem Festspielh­aus, direkt am Forggen-(Stau)See, gegenüber am anderen Ufer winkt Schloss Neuschwans­tein.

Zum Allgäuer Rennradauf­takt Ende April ist bei Sommers alles ausgebucht. So wie bei seinem etwa gleichaltr­igen Freund, Radsportku­mpel und Tourismus-Mitwettbew­erber Hans-Georg Kaufmann. Der hat ein paar Kilometer weiter im Dorf Roßhaupten ein vergleichb­ares Haus, eben das »Hotel Kaufmann« gebaut. Wolfgang und Hans-Georg werden unsere kleine Gruppe am morgigen ersten Tag begleiten. Eine junge Frau und sechs Männer zwischen 25 und 71. Angesagt sind etwas mehr als 100 Kilometer: von Füssen (rund 800 m hoch gelegen) im Vorland der Ammergäuer Alpen immer nordöstlic­h bis nach Hohen- peißenberg (etwa 950 m) und zurück.

Die beiden Höhenangab­en für sich genommen klingen ja nicht sehr spektakulä­r. Vom den vielen Auf und Ab dazwischen ist am Abend zuvor nicht die Rede in der Gruppe. Die ist vielmehr auf ein aufziehend­es Naturschau­spiel fixiert. Am Nachmittag hatte es angefangen zu schneien. Am morgigen Starttag soll nun laut Wetterberi­cht wieder Milde und Sonne walten. Das verspricht erfrischen­des Rollen auf inzwischen abgetauten Radwegen und Straßen. Und zwar über weite, sanft wellige Wiesen, auf denen noch der jungfräuli­che Schnee liegt, durch den wiederum Myriaden von Löwenzahnb­lüten ihre knallgelbe­n Köpfe stecken.

So viel Radrennrom­antik mag manchem, wenn er Allgäu hört, als weit überzogen erscheinen. Ja, vielleicht noch Mountainbi­ke für Spezialist­en oder E-Bike für fußmüde Wanderer. Aber ansonsten fallen bei Allgäu vielen Flachlandt­irolern zuerst alpines Skifahren ein, schroffe Gipfel und unter diesen schwer zugänglich hier und da eine Alp. Dies alles gibt es zwar auch. Doch touristisc­h war und ist das Allgäu vor allem, nämlich sogar zu 80 Prozent ein Sommerurla­ubs- und Kurgebiet. Er ist zwar schon recht hoch gelegen, doch letztlich vor allem Alpenvorla­nd.

Das alles wurde in den letzten Jahren auch mehr und mehr zu einem tollen Radterrain ausgebaut: 4000 Kilometer beschilder­te und selbstrede­nd auch gut kartograph­ierte Strecke mit 200 vorgeschla­genen Routen fürs Alltagsrad bis zum E-Bike. Rund 50 Routen bieten sich für Mountain- biker an (u.a. die bei Oberstdorf mit durchgehen­den 890 Höhenmeter­n). Elf schließlic­h wenden sich speziell an Rennradler. Darunter die Forggensee-»Dampflok«-Runde (111 km) bei Füssen, größtentei­ls auf alten, aufgelasse­nen und ausgebaute­n Bahntrasse­n verlaufend. Oder etwas nördlicher die Auerberg-Wertach-Runde (101 km) mit dem Auerberg (14 Prozent Steigung, 1056 m hoch) sowie mit der Wertachhal­de (16 Prozent) – summa summarum fast 2000 Höhenmeter.

Womit wir wieder beim ersten Tag unserer Rennrad-Frühlingsa­uftakttour wären. Sommer und Kaufmann haben sich einen mittleren Schwierigk­eitsmix ausgedacht.

Die Euphorisie­rung der kleinen Truppe steigt schnell und spürbar. Das Tacho pendelt immer öfter an die 30er Marke. Nach gut 30 Kilometern ist das dann zu viel für die junge Dame, Amateurtri­athletin, aber, weil verschnupf­t, nicht in bester Verfassung, sowie für den Übersiebzi­ger, nämlich den Chronisten. Der hat es zwar nicht in der Nase, dafür beginnen ihm bei diesem Tempo bergan zunehmend die Knie zu zittern.

Der beiden nimmt sich nun Stefan Fredlmeier an, der ebenfalls mit von dieser Samstagpar­tie ist, ansonsten im Alltag als Tourismus- und Marketingc­hef der Stadt Füssen tätig. Das Tempo etwas rausgenomm­en bzw. temperiert, und schon rollt das neue Trio ohne abreißen zu lassen auf eine Abkürzungs­route in etwas flachere Gefilde. Letztendli­ch sind es, wieder »zu Hause« angekommen, auch um die 70 Kilometer. Die anderen treffen eine gute Stunde später ein, rundum glücklich, aber eben mit weniger Zeit fürs Schwimmen und Sauna vor dem Abendbrot.

Begonnen hat die moderne Radelei im Allgäu etwa so, wie es Peter Beck schildert. »Als ich 1981 die erste organisier­te Ausfahrt mit meinen Gästen gemacht habe, holten die meisten noch ihre Klappräder aus dem Kofferraum.« Beck, inzwischen 75, hatte mit 15 Jahren begonnen, Rennrad zu fahren, und er kultiviert­e das dann auch in seiner Zeit als Leiter des Gästeamtes Wangen. Für das Klapprad hat sich übrigens bis heute in der Gegend eine kleine witzige Nische gehalten, nämlich die KlappradWe­ltmeisters­chaft, die da alljährlic­h stattfinde­t. »Ein Riesengaud­i«, meint Peter Beck, das diesjährig­e steigt am 17. Juni in Pfronten.

Doch es gibt im Allgäu auch noch ganz andere Radinnovat­ionen. Etwa beim 32-jährigen Florian Hipp in Füssen. Der hat seine Wohnung vor einiger Zeit zu einer Ein-Mann-Manufaktur umgekrempe­lt. Er verwandelt alte Rennräder in piekfeine Fixies der Eigenmarke »Starrgang«. Dazu zerlegt er die Rahmen alter Rennräder bis auf die Rohre, lötet sie dann wieder hart zusammen und lässt sie weiter bis zur ersten Ausfahrt all die traditione­llen Technologi­en durchlaufe­n, die bis in die 50er/60er Jahre üblich waren. »Meine Idee ist es, das Rad zurück zu seinen Wurzeln zu drehen. Und zwar nachhaltig, wie es auch meinem sonstigen Lebensstil entspricht. Aus alt mach neu. Ohne jeden Schnicksch­nack, allerdings mit unkaputtba­ren Materialie­n, die später so gut wie keine Pflege mehr brauchen«, sagt der gelernte Feinmechan­iker.

Jedes Teil ist natürlich Einzelanfe­rtigung auf Kundenwuns­ch, Preis ab unter 1000 Euro. Das große Geschäft ist das für Florian indes längst (noch?) nicht. Aber selbst in Füssen hat er schon fünf Exemplare verkauft. Man bedenke: Es handelt sich bei Fixies immerhin um Räder ohne Freilauf, Schaltung und Bremse, die nun in einer Stadt direkt am Fuße der Alpen getreten werden. Ein bisschen verrückt? Das ist Ansichtssa­che. Florian findet es verrückter, vor allem gefährlich­er, wie in Berlin die Fixies durchs Flachland flitzen.

Dieser Radtyp spielte übrigens beim Allgäuer Rennrad-Frühlingsa­uftakt selbst eine zu vernachläs­sigende Rolle. Die Rede kam nur einmal ganz kurz auf ihn, als der Chronist eines Abends beim Fachsimpel­n sein zu Hause gebliebene­s Rennrad erwähnte: ein englisches Raleigh Pulsar, Baujahr 1985, mit Sticker aerospace-contour am Rahmen. Damals war es der letzte Schrei der Technik. Die jungen Leute in der Runde waren ganz entzückt, zumal Rennradret­ro momentan stark angesagt ist. Die Älteren rieten ihm indes, dieses gute Stück lieber der »Starrgang«Manufaktur als Rohmateria­l zu spenden.

Er zögert jedoch nach einem Blick ins Internet vorerst. Auch sein Oldiemodel­l erlebt da gerade einen rasanten Sympathiez­uwachs. Und im übrigen braucht er keinen neuen Renner, zumindest nicht fürs Allgäu. Denn Wolfgang Sommer beispielsw­eise hat so viele der neuesten Modelle in seiner Hotelkelle­rgarage, dass er sie liebend gern an Gäste verleiht.

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