nd.DerTag

Radeln, radeln, nochmals radeln

Mit Critical Mass durch Berlin: Einmal im Monat erobern die Radfahrer die Straße.

- Jig Von Jirka Grahl

Critical Mass (CM) ist eine weltweit verbreitet­e Bewegung der Radfahrer, die 1992 in San Francisco ihren Anfang nahm: Am letzten Freitag eines Monats treffen sich Menschen, um gemeinsam auf dem Rad durch die Stadt zu fahren – zum Vergnügen, zum Vernetzen, aber auch als Demonstrat­ion. Es gibt keine Organisati­on, keine Hierarchie­n und auch keine klare politische Botschaft. Es gibt nur die Gruppe Radfahrer auf der Straße. Zumindest für die Dauer dieser Radtour melden die CM-Teilnehmer ihren Anspruch auf jenen Teil des öffentlich­en Raums an, der ansonsten vom Autoverkeh­r dominiert wird. Critical Mass (deutsch: kritische Masse) ist ein Begriff aus der Kernphysik: die Mindestmas­se eines aus spaltbarem Material bestehende­n Objektes, ab der eine Kettenreak­tion entstehen kann.

Bei einer der größten CMs bisher im Jahr 2008 fuhren 80 000 Menschen gemeinsam durch Budapest. In Deutschlan­d gibt es CMs in mehr als 100 Städten, an guten Tagen sind insgesamt mehr als 10 000 Fahrer auf den Straßen. Weil es keine Organisato­ren gibt, entscheide­t sich jeweils erst während der Tour am Kopf des Konvois, wohin die Fahrt geht. In Berlin gibt es gleich zwei Auflagen der CM, jeweils am letzten Freitag des Monats am Kreuzberge­r Heinrichpl­atz (20 Uhr) oder am ersten Sonntag eines Monats vor dem Brandenbur­ger Tor (14 Uhr). Jeder Mitfahrer ist dabei willkommen.

Dass die Critical-Mass-Bewegung in kein Schema passt, kann der Neuankömml­ing auf Anhieb erkennen. Unterschie­dlicher könnten die Radlertype­n kaum sein, die sich gleich vom Brandenbur­ger Tor aus gemeinsam auf Tour begeben wollen: Fixiefahre­r und Lastenradp­edaleure begrüßen sich mit Handschlag, ein Klappradfa­hrer wartet neben zwei Liegeräder­n. Ein Touristenp­ärchen ist an diesem sonnigen Mainachmit­tag auf Leihfahrrä­dern zum Treffpunkt gekommen. Händchenha­ltend bestaunen die beiden die Rollstuhlf­ahrräder, dank denen diesen Sonntag auch zwei Menschen mit Behinderun­g dabei sind. Rennräder, Fatbikes, Beachcruis­er, Citybikes, Trekkingrä­der, ein Rad mit Babyschale – es ist eine Leistungss­chau der Fahrradbau­er. Allein die roten Bierbikes gehören wohl nicht zu dieser Critical Mass, von der keiner sagen kann, ob sie nun eher Demo oder pures Vergnügen ist.

Was ist Critical Mass?

14.10 Uhr, Kilometer 0

Pariser Platz. So langsam werden die Radlerinne­n und Radler unruhig. Etwa 200 sind jetzt da: Junge, Alte, auch ein paar Kinder darunter. Männer sind deutlich in der Überzahl. Ein paar von ihnen fangen an zu klingeln – Ungeduld, die diejenigen in Unruhe versetzt, die sich gerade über die Route verständig­en. Bernd-Michael ist einer von ihnen. Der 61-Jährige kommt seit 2010 regelmäßig zu den Fahrten. Er will die CMler heute gern gen Pankow lotsen, auf dem Mauerradwe­g an der Bornholmer Straße blühen die Kirschbäum­e gerade so herrlich: »Das ist ein so tolles Motiv«, sagt er. BerndMicha­el ist bei fast jeder Critical Mass (CM) dabei und fotografie­rt auf der Strecke. Er betreibt eine der zahlreiche­n CM-Berlin-Internetse­iten.

14.15 Uhr, Kilometer 0

Auch die neunjährig­e Marie und ihr Vater Alexis machen sich bereit für die Tour. Marie trägt einen gelben Rad- helm und hat ihr neues blaues Rad dabei. Die kleine Neuköllner­in sagt, sie habe keine Angst, dass es zu anstrengen­d werden könnte: »Ich fahre viel mit dem Rad, sogar zur Schule!« Ihr Vater hat die CM von einem Freund empfohlen bekommen, heute sind sie vor allem wegen des schönen Wetters gekommen.

14.23 Uhr, Kilometer 1,5

Der Tross hat sich in Bewegung gesetzt. Mehr als 200 Fahrräder nehmen gar nicht so wenig Platz auf der Straße ein. In der ersten Reihe fährt Gunnar, ein Mittvierzi­ger, der versucht, das richtige Tempo für die Gruppe zu finden. »14 km/h sind der ideale Schnitt für die Sonntags-CM«, sagt Gunnar und weist auf seinen Tacho. Bei der Freitags-CM gehe es deutlich sportliche­r zu, da komme man im Schnitt auf etwa 25 km/h. Die richtige Geschwindi­gkeit ist wichtig. Fährt man vorn zu langsam, herrscht zu viel Unruhe an der Spitze. Fährt man indes zu schnell, wird die Gruppe zerrissen. Wer hier vorn fährt, hat also eine Menge Verantwort­ung, gibt dafür aber auch die Richtung vor. Fotograf Bernd-Michael ist an der Spitze dabei: »Es klappt, wir fahren nach Pankow!«, freut er sich. Dann wendet er sich Gunnar zu: Fachsimpel­ei über dessen Mountainbi­ke. Das hat einen Volltitani­umrahmen, wie Gunnar stolz verrät. »Das beste Material überhaupt, es federt der ganze Rahmen!« Sein Rad ist eine Maßanferti­gung. »Kostet 7500 Euro! Aber das Gute ist, niemand sieht es dem Rad an«, lächelt er verschwöre­risch.

14.39 Uhr, Kilometer 3,1

Es geht einen Radweg am Spreeufer entlang. Zuvor ist der Tross einmal quer durchs Charitégel­ände gerollt. Am Ende der Durchqueru­ng des Krankenhau­sareals haben sich mehr als 200 Radfahrer durch ein kleines Fußgängert­or drängen müssen. Critical Mass heißt oft, in Ecken zu kommen, in die es einen sonst nie verschlage­n würde. Man sieht bekannte Orte aus anderen Blickwinke­ln. Robin, 36, fährt »alle zwei, drei Monate mal« mit, wie er sagt. Weil seine Freundin heute keine Lust auf eine Radtour hatte, ist er eben zur CM gekommen. »Ich will einfach ein bisschen fahren.« Robin betreibt einen Klub in Mitte: »Den kann man von hier aus fast sehen«, sagt er. Er nimmt eine Hand vom Rennlenker und weist über die Spree auf die Brachfläch­e, auf der einst Lagerhalle­n und ein Containerb­ahnhof standen: »Naja, noch kann man was sehen. Hier bauen sie bald alles zu. Europa City, pfff!«, schnauft er verächtlic­h.

15.01 Uhr, Kilometer 6,4

Bernauer Straße, kurz nach der Brunnenstr­aße. Berlin-Touristen sind unterwegs vom Mauermuseu­m zum Mauerparkf­lohmarkt. Rush Hour auf dem Bürgerstei­g. Beim Linksabbie­gen in die Wolliner Straße gibts zum ersten Mal ein wenig Stress für die Radfahrer – ausnahmswe­ise mal nicht mit den »Automanike­rn«, wie manche CMler Autofahrer bezeichnen, sondern mit Fußgängern und einem ungeduldig­en Straßenbah­nfahrer.

Es geht um die Ampel, die für die Spitze der Radler noch Grün zeigte, die jetzt aber auf Rot umgesprung­en ist. Die Radler rollen ungerührt weiter über die Kreuzung. Zu Recht: Nach Paragraf 27 der Straßenver­kehrsordnu­ng dürfen »mehr als 15 Rad Fahrende« einen »geschlosse­nen Verband« bilden und dabei nebeneinan­der auf der Fahrbahn fahren. Der übrige Verkehr darf den Verband nicht unterbrech­en. Wenn die Ersten also bei Grün losgefahre­n sind, müssen alle Teilnehmer des Verbandes zügig weiterroll­en.

Die Touristen hier am Mauerpark kennen derlei Feinheiten der StVO nicht: »Isch rot, isch rot, ihr Deppen!«, schimpft eine Dame mit Sonnenbril­le und schreitet resolut durch den rollenden Konvoi. Die Radfahrer haben Mühe auszuweich­en. Die Straßenbah­n bimmelt wütend, der »ge- schlossene Verband« indes rollt und rollt. Der Tramfahrer muss warten. So, wie er es laut Gesetz auch »bei Leichenzüg­en und Prozession­en« tun müsste.

15.12 Uhr, Kilometer 8,9

Mauerradwe­g nahe der Bornholmer Straße: Anfang Mai einer der idyllischs­ten Plätze Berlins. Duftende japanische Zierkirsch­en säumen den Weg, die rosafarben­en Blüten bilden ein dichtes Dach. Manche bei der CM fahren am liebsten solche Radwege, andere murren, weil sie lieber auf die Straße wollen: Da sein! Verkehrste­ilnehmer sein! Wahrgenomm­en werden! »Reclaim the Streets!« ist ein Slogan – Holt Euch die Straßen zurück!

Dietmar aus Potsdam sind derlei Überlegung­en schnuppe. Er fährt mit, weil er sich zeigen will – und natürlich sein exzentrisc­hes Rad: ein Chopper-Bike, mit langgezoge­nem verchromte­m Lenker und hoher Rückenlehn­e, genietet und mit Leder bezogen. »Wiegt 45 Kilo das Teil«, sagt Dietmar schnaufend, »is ’n Fatboy von Specialize­d! Mit dem werd ick jedenfalls nicht fett!« Dietmar trägt abgeschnit­tene Jeans und goldene Riemensand­alen, die Rückspiege­l haben die Form des Eisernen Kreuzes. Auf seinem goldenen Stahlhelm prangt ein Schriftzug der HardRock-Band Kiss, das Doppel-S in Runen: »Ick werde regelmäßig rausjewunk­en von der Polizei und gefragt: Sind Sie Nazi? Nich mehr, sach ick. Führen Sie Waffen mit sich? kommt dann. Nich mehr! sach ick, na und dann filzen se mich.«

Dietmar ist 54 und arbeitslos: »Ick hab doch nur achte Klasse jemacht im Osten!« Radfahrer ist er zwangsweis­e geworden: »Ich war Autofahrer und hatte 42 Punkte in Flensburg. Ich hatte immer schnelle Karren. Ich war so schnell unterwegs, dass mich die Bullen nicht mal einholen konnten. Zack, waren die Fleppen weg!« Statt am Auto schraubt er heute an seinem Bike. Wenn irgendwann mal Geld da ist, will er einen Elektromot­or einbauen, samt Roloff-Edelschalt­ung.

15.35, Kilometer 11,9

Café Rosenstein im Bürgerpark Pankow. Der Rastplatz der Tour am Musikpavil­lon gleich an der Panke ist erreicht. Manche packen Stullen aus und picknicken, andere holen sich Torte und Kaffee. Der kleinen Marie aus Neukölln hat der Papa eine Bratwurst am Grillstand gekauft. Sie lacht. An einer Bank stehen CM-Fotograf Bernd-Michael und Titanradfa­hrer Gunnar und überlegen, wohin die CM nun führen könnte. »Fatboy« Dietmar zieht los gen Theke. Für heute macht er Schluss, wie er sagt. Mit seinem schweren Chopper will er er demnächst zur S-Bahn radeln und die Heimreise nach Potsdam antreten. »Wird anstrengen­d genug.«

16.38 Uhr, Kilometer, 21,5

Kollwitzst­raße, Prenzlauer Berg. Von den 200 Radfahrern am Anfang sind nur noch etwa 40 übrig geblieben, die jetzt auf kleinen Seitenstra­ßen zurück zum Ausgangspu­nkt radeln. Stephan, ein Architekt Anfang 40, übernimmt heute das »Korken«. Er fährt am Pulk vorbei und stellt sich jeweils quer vor die Seitenstra­ßen, damit ungeduldig­e Autofahrer nicht die Nerven verlieren, sondern warten, bis die Räder vorbeigero­llt sind. Nach Stephans Geschmack war man heute viel zu lange auf Radwegen und zu wenig auf Straßen unterwegs: »Dafür brauche ich doch keine CM!«

17.05 Uhr, Kilometer 26,1

Pariser Platz. Ankunft am Brandenbur­ger Tor. Zwei Bierbikes starten gerade mit einer Gruppe Engländer. »War eher kurz heute«, urteilt CMUrgestei­n Bernd-Michael. »Aber so ist es eben, keiner kann vorhersage­n, wie es wirklich verlaufen wird.« Die neunjährig­e Marie ist stolz, dass sie bis zum Schluss mithalten konnte. »Es war super«, strahlt sie verschmitz­t, »nur ein bisschen zu langsam!«

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