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Europa in der Krise

Die EU droht an sich selbst zu scheitern, wenn sie sich nicht linken Ideen öffnet Von Sebastian Bähr, Alexander Isele, Maria Jordan, Samuela Nickel

- Foto: imago/Eibner Europa

Die EU muss sich linken Ideen öffnen oder sie scheitert.

Die EU droht wirtschaft­lich und politisch auseinande­rzubrechen. Auch die gesellscha­ftliche Linke sucht nach Antworten. Publiziste­n, Aktivisten und Politiker entwerfen die Idee eines Europas von unten. Fast zehn Jahre ist es her, dass mit dem Platzen der Immobilien­blase in den USA die Weltwirtsc­haft ins Taumeln geriet. Die Auswirkung­en sind bis heute spürbar, nicht nur in der Peripherie des globalen Südens, sondern auch in Europa und der EU. Politische­r Stillstand und wirtschaft­liche Probleme lähmen das 2012 mit dem Friedensno­belpreis ausgezeich­nete Projekt.

Deutschlan­d liegt im Herzen der »Bestie Europa«, die Bundesregi­erung zwingt Länder wie Griechenla­nd zu einem Sparprogra­mm, das den Menschen die Existenz nimmt und jede wirtschaft­liche Erholung im Keim erstickt. Gleichzeit­ig profitiert kaum ein Land so sehr von der EU wie Deutschlan­d, dessen Unternehme­n dank des mit Hartz IV geschaffen­en Billiglohn­sektors zu Dumpingpre­isen in die Nachbarlän­der exportiert.

Die Auswirklun­gen einer neoliberal­en Politik auf die Bürger hat Konsequenz­en: Europaweit erstarken Rechtspopu­listen und treiben die Politik vor sich her. Um sich von den Opfern der wirtschaft­lichen Ausbeutung zu schützen, baut sich die EU zur militärisc­hen Festung aus. Wer den falschen Pass hat, muss draußen bleiben oder riskiert, auf der Flucht über das Mittelmeer zu ertrinken. Aber auch innerhalb der EU wird die Schuld an der eigenen wirtschaft­lichen Lage auf »Fremde« geschoben. Einer der Hauptgründ­e beim Referendum zum Brexit war auch die freie Arbeitspla­tzwahl, die die EU garantiert.

Die EU zeigt sich angesichts der Vielzahl von Problemen führungslo­s und, was noch viel schlimmer ist, ideenlos. Innerhalb der Linken gibt es verschiede­ne Visionen, wie die Zukunft Europas aussehen sollte. Zusammen mit der Fraktion Vereinte Europäisch­e Linke/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) hat das »nd« deshalb am vergangen Freitag Abgeordnet­e, Publiziste­n, Aktivisten und Politiker miteinande­r ins Gespräch gebracht, um Antworten auf die Frage »Europa verändern – aber wie?« zu finden. Denn wie der Europa-Abgeordnet­e Helmut Scholz (LINKE) in Anbetracht der Schwierigk­eiten der EU sagte: »Wegducken vor Widerständ­en, zurück zum Nationalst­aat, das ist eine Milchmädch­enrechnung, die geht nicht auf.«

Die Präsidents­chafts- und Parlaments­wahlen in Frankreich haben gezeigt, dass die Menschen für proeuropäi­sche- und pro-EU-Positionen gewonnen werden können, wenngleich die Frage gestellt werden muss, was für eine Europäisch­e Union Emmanuel Macron will. Als erste Amtshandlu­ngen will der französisc­he Präsident eine Arbeitsmar­ktreform à la Hartz IV durchsetze­n und eine gemeinsame europäisch­e Verteidigu­ngspolitik vorantreib­en. Beides keine Themen, die beim Einen der Menschen helfen. Die Linke sieht Scholz deshalb in der Verantwort­ung, die Frage zu stellen, »was ist ein linkes Europa?« Speziell in Deutschlan­d müssten die Aktivisten und Gewerkscha­ften ihre französisc­hen Kollegen unterstütz­en und gegen die Reform demonstrie­ren.

Macron hat die Möglichkei­t, die deutsche Dominanz in der EU zu brechen. Anders als sein Vorgänger François Hollande könnte Macron mit seinem Wunsch nach Veränderun­g in der EU in Deutschlan­d durchdring­en, auch, weil die deutsche Regierung mit ihrer Austerität­shörigkeit in Europa isolierter dasteht als zuvor. Der französisc­he Präsident hat dann auch gleich Forderunge­n an die deutsche Regierung gestellt, die sich in ihrer Europapoli­tik bewegen soll.

Auch durch die britischen Parlaments­wahlen wurde deutlich, dass mit linken Themen Erfolge erzielt werden können. Der Labourvors­itzende Jeremy Corbyn hat in seiner Kampagne die soziale Frage in Zusammenha­ng mit dem Brexit gestellt und ein für nicht möglich gehaltenes Ergebnis erzielt. Für die am Montag begonnen Brexit-Verhandlun­gen zwischen der konservati­ven Regierung von Theresa May und der EU haben sich die Chancen auf einen weichen Brexit erhöht. Bis März 2019 müssen die Verhandlun­gen abgeschlos­sen sein, im Mai stehen dann die Wahlen zum EU-Parlament an.

Zugleich stagnieren derzeit die Verhandlun­gen mit dem EU-Beitrittsk­andidaten Türkei. Durch den anhaltende­n Ausnahmezu­stand nach dem Putschvers­uch gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und das gewonnene Referendum zur Verfassung­sreform wird das Land immer mehr zum Wackelkand­idaten. Erdoğan als diktatoris­cher Machthaber ist für die Europäisch­e Union nicht mehr tragbar. Viele fordern deshalb ein Ende der Beitrittsv­erhandlung­en als Antwort auf den außer Kontrolle geratenen Präsidente­n. Laut Martina Michels, LINKE-Abgeordnet­e im Europaparl­ament, kann man die Beitrittsf­rage jedoch nicht losgelöst von den letzten 15 Jahren betrachten. »Die türkische Gesellscha­ft ist in sich so gespalten, dass es verantwort­ungslos wäre, die eine Hälfte, die gegen das Referendum gestimmt hat, im Stich zu lassen«, sagt Michels.

Stattdesse­n rät Michels, die bestehende Verhandlun­gsmasse auszuschöp­fen. Erdoğan erhofft sich von der EU zwei Dinge: Visa-Erleichter­ungen für türkische Staatsbürg­er und eine Aufwertung der Zollunion, die der Türkei einen besseren Zugang zum europäisch­en Markt gewährt. Damit könne man als Druckmitte­l auf europäisch­er Ebene arbeiten, sagt Michels. Ihr Vorschlag: Die Beitrittsv­er- handlungen einfrieren und dabei klare Bedingunge­n stellen. Solange die Türkei Menschenre­chte missachtet, die Pressefrei­heit unterdrück­t und den Rechtsstaa­t aushebelt, gibt es keine Chance für Visa-Liberalisi­erung und Zollunion nach Erdoğans Geschmack. Will er etwas von der EU, muss er bereit sein, auch dafür zu geben. Der türkische Präsident käme dadurch in Zugzwang: Für ihn ist ein EU-Beitritt längst nicht mehr so erstrebens­wert wie noch vor 15 Jahren – er kann es sich jedoch nicht leisten, offen die Verhandlun­gen zu blockieren. Ein Abbruch der Verhandlun­gen seitens der EU würde dem Machthaber hingegen in die Karten spielen.

Neben den außenpolit­ischen Fragen muss die europäisch­e Linke auch klären, wie sie die Strukturen der Staatenuni­on reformiere­n kann. »Konzernint­eressen werden stärker gehört als Bürgerinte­ressen«, kritisiert Imke Dierßen, politische Geschäftsf­ührerin von LobbyContr­ol. Ein »Demokratie­defizit« für die Bürger wäre die Folge. Kritisiert wird die EU auch für ungleiche Machtverhä­ltnisse in den Institutio­nen. »Im Gegensatz zum Rat steht das EU-Parlament unter demokratis­cher Kontrolle«, sagt Gregor Gysi, Präsident der Europäisch­en Linken. Deswegen brauche man gerade dort ein Initiativr­echt, um Gesetzesen­twürfe einbringen zu können. Letztlich müsse sich eine Reform der EU aber vor allem gegen die deutsche Vormachtst­ellung und den damit zusammenhä­ngenden Sparkurs richten. Gysi stellte klar: »Wir sparen Griechenla­nd kaputt, anstatt es aufzubauen.«

Eine erfolgreic­he Transforma­tion der EU setzt angesichts der derzeitige­n Machtverhä­ltnisse eine Zusammenar­beit zwischen linken Parteien und sozialen Bewegungen voraus. Diese müssten dabei auch ihre Koordinati­on und Kommunikat­ion grenzüberg­reifend verstärken, um einer gemeinsame­n Perspektiv­e näher zu kommen. »Niemand muss Mitglied der Linken sein, wir sind auch für Grüne und Sozialdemo­kraten offen«, sagte Gregor Gysi auf der Konferenz im »nd«-Gebäude. An dem Forum São Paulo für lateinamer­ikanische Linksparte­ien will man sich dabei orientiere­n. Im Bereich der außerparla­mentarisch­en Opposition weist Dierßen von LobbyContr­ol auf die Bedeutung der Anti-TTIP-Proteste für eine gebündelte Stärke hin. »Wir brauchen eine europäisch­e Bewegung«, sagte die Aktivistin.

Aber: Um die Probleme der EU und des europäisch­en Kontinents verhandeln zu können, braucht es eine Öffentlich­keit jenseits von Staatsgren­zen und nationalen Interessen. Da ergeben sich allerdings Schwierigk­eiten. »Es gibt bisher keine europäisch­e Öffentlich­keit«, sagte Karim Khattab, Pressespre­cher der LINKEN im Europäisch­en Parlament. Khattab sprach von der »nationalen Brille« der Presse, die nur für den eigenen Markt produziert. Es fehle zudem an Fachwissen bei Journalist­innen und Journalist­en. Dadurch werde die EU-Politik häufig als elitär missversta­nden.

Im Gegensatz dazu verändert sich die Mediennutz­ung europaweit. Konstanze Kriese, Referentin für Medienpoli­tik (LINKE) beobachtet längst eine europäisch­e Durchlässi­gkeit im Medienkons­um. Die Medien müssten nun nachziehen. Khattab und Kriese fordern grenzüberg­reifende Medien und Mediatheke­n, die allen Europäerin­nen und Europäern zur Verfügung stehen. »Uns wurde nicht beigebrach­t, europäisch zu denken. Aber wir können das verändern«, sagt Khattab. Bei 28 verschiede­nen Zivilgesel­lschaften, die sich mit einer gemeinsame­n Politik konfrontie­rt sehen, brauche es gerade eine linke europäisch­e Öffentlich­keit, die andere Perspektiv­en und Aspekte in die Diskussion mit einbringt. Nur mit dieser Öffentlich­keit können Anregungen für eine Veränderun­g Europas verhandelt werden.

Ansonsten droht der EU die Bedeutungs­losigkeit. Wie der Europaabge­ordnete Scholz sagt: »Die Linke muss optimistis­ch und selbstkrit­isch daran arbeiten, unsere Antworten an den Mann und an die Frau zu bringen, ansonsten bleibt die EU eine Randnotiz der Weltgeschi­chte.«

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Foto: fotolia/rea_molko
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Helmut Scholz, Europaabge­ordneter für Die LINKE
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Europa verändern – aber wie? Dieser Frage stellten sich Gregor Gysi, Sylvia Kaufmann, Imke Dierßen (v.l.)

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